Nach dem Marathon in Paris am 8. April wollte ich meine gute Form nicht einfach verkümmern lassen, also kam der Trollinger Marathon in heimischen Gefilden (Heilbronn und Umgebung) gerade recht. Rekorde wollte ich nicht laufen, das Training sollte auch nicht so anstrengend sein wie vor Paris; ein paar lange Läufe und ansonsten normales Training sollten ausreichen, um den Marathon zu schaffen.
Tatsächlich war mein Training dann auch nicht besonders ausführlich: Wochenumfänge von 50 .. 70 Kilometer, dabei nur zwei lange Läufe (30..33k) und ein paar mittlere Läufe (ca. 20k). Irgendwie war ich nicht so motiviert wie vor meinen bisherigen Marathon Läufen. Das Wetter war durchweg gut und so genoß ich mehr meine Läufe als ich mich richtig vorbereitete.
Allerdings war ich in Paris das erste Mal unter
4 Stunden gelaufen und das wollte ich wieder schaffen. Wenn ich aber das Höhenprofil
der Strecke anschaute kamen mir da dann doch erhebliche Zweifel. Insgesamt mußten
mehr als 250 Höhenmeter überwunden werden und genauso viele wieder
nach unten. Nun ja, ich setzte mir also keine Zeit, hoffte aber insgeheim, daß
ich die 4 Stunden wieder unterbieten konnte. Im Training lief es dann auch recht
ordentlich und die drei Wettkämpfe (Gerlingen, 10k, 43:38 Minuten, Feuerbach,
16k, 1:16:54 Stunden, Münchingen, 10k, 44:24), die ich nach Paris machte,
zeigten auch gute Zeiten. Lediglich zwei oder drei lange Läufe über
drei Stunden fehlten mir zur Top Form.
Samstag früh um 5.30 Uhr (16. Juni) stand ich auf, aß ein Brot und fuhr dann von Balingen zu mir nach Hause (Stuttgart), wo ich meine Laufklamotten anzog und alle Laufuntensilien einpackte. Dann ging es weiter nach Heilbronn. Das Frühstück war etwas dürftig, daher aß ich unterwegs einen Energieriegel. Während der ganzen Fahrt regnete es eigentlich ununterbrochen, mal stärker mal schwächer. Erst als ich in Heilbronn ankam hörte es auf.
Nach einigem Suchen war ich endlich kurz vor 8.30 Uhr in der Gegend des Frankenstadions in Heilbronn. Die ganze Gegend wimmelte von Menschen. Viele Läufer liefen sich warm, zogen sich auf dem Parkplatz bei ihren Autos um oder machten auch sonst einen geschäftigen Eindruck. Schnell stellte ich mein Auto auf einen freien Platz und hastete den Kilometer zur Startnummernausgabe. Dort hatte ich nach fünf Minuten meine Unterlagen und mein T-Shirt. Wieder zurück zum Auto, diesmal in Ruhe. Ich befestigte meinen Champion-Chip (zur Zeitnahme) am Schuh und zog mich vollends laufbereit an. Während ich gemütlich Richtung Start ging, aß ich noch einen Energieriegel. Immer wieder schaute ich mich um, ob ich nicht Michael Bleicher sah, einen Arbeitskollegen, der auch hier laufen wollte.
Im Startbereich machten sich die Rollstuhlfahrer bereit. Sie sollten um 9.20 Uhr starten, zehn Minuten vor den Marathonis. Hunderte Läufer und Zuschauer hatten sich bereits versammelt. Start war auf einer Brücke, die Startgerade fiel leicht ab. Pünktlich begann der Sprecher begann zu zählen: 15 - 14 - 13 ... . Bei 12 machten einige Zuschauer mit und bei 10 zählten dann alle lauthals bis Null. Der Start klappte dann auch bestens und die sieben Rollis gingen unter großem Beifall auf die Strecke. (Einen davon sah ich später unterwegs, in einem Hof. Er hatte einen Platten, der gerade geflickt wurde.)
Die Stimmung im Startbereich war bestens. Langsam verschwanden die Angehörigen aus dem Startbereich und es kamen immer mehr Läufer. Ich ging nochmals nach vorne, ob ich nicht doch noch Michael sah. Der war bestimmt weiter vorne als ich mich aufstellen wollte. Er hatte sich vorgenommen unter 3:41 Stunden zu laufen und endlich mal eine ihm angemessene Zeit zu erreichen, nachdem er in Frankfurt letztes Jahr wegen einer Erkältung keine gute Zeit gelaufen war. Zu hunderten strömten jetzt aber die Teilnehmer in den Startbereich und stellten sich auf. Ich ging also wieder etwas nach hinten, stellte mich an einen Platz zwischen die dicht gedrängte Läuferschar und genoß die Stimmung.
Der Veranstalter hatte einen Preis für die beste Verkleidung ausgeschrieben und viele waren der Aufforderung gefolgt. Da war Robin Hood in einem wirklich echten Outfit mit Bogen und einigen Pfeilen. Oder eine "Milka Kuh", ein Läufer ganz in einem Pelz Kostüm weiß Lila und einer Kuh-Maske auf dem Kopf - vernünftig atmen konnte man da sicher nicht. Ein ganzer Lauftreff aus acht oder neun Läufern und Läuferinnen hatten lindgrüne Laufkleider an und in der passenden Farbe ein Balletröckchen aus steifer Gaze. Und noch viele weitere Verkleidete, die das Bild ungemein auflockerten.
Als ich zur Ausgabe der Startunterlagen ging, hatte ich das Gerücht gehört, daß nach dem Marathon eine Trauung zwischen zwei Teilnehmern stattfinden sollte. Tatsächlich sah ich dann die beiden: normale Laufklamotten, sie ein Röckchen und Schleifen im Haar, er mit Zylinder.
Die Stimmung war sehr gelöst und überall machte man noch small talk. Ich wußte nicht mehr, welche Kilometerzeit ich laufen mußte, um unter 4 Stunden zu kommen. Verzweifelt rechnete ich, kam aber zu keinem vernünftigen Ergebnis. Ich suchte mir einen Läufer aus, dem ich etwa meine Leistung zutraute und fragte ihn, was er laufen wolle. "Unter 3:30 Stunden!" Was das denn für eine Kilometerzeit sei? "Etwa fünf Minuten". Ich fragte den nächsten, der dann tatsächlich um die vier Stunden laufen wollte. Die notwendige Kilometerzeit mußte dann etwas um 5:30 Minuten liegen. Schnell rechnete ich im Kopf nach. Klar, das würde dann etwa 3:50 Stunden geben.
Immerhin über 1.100 Läuferinnen und Läufer standen jetzt auf der Brücke, beinahe so dicht wie in Paris. Und schon fiel der Startschuß. Und wie bei den großen Marathons ging es in meiner Gegend erst Mal nicht vorwärts. Aber schon nach etwa 10 Sekunden konnten auch wir langsam gehen und ab der Startlinie ging es dann zügig weiter.
Vermutlich hatte ich mich etwas zu weit vorne eingeordnet. Ich hielt zwar mühelos mit der Menge um mich herum mit, aber mein Puls war schon auf 138, eindeutig zu viel für den Anfang. Das wollte ich nach 10 oder 20 Kilometern laufen aber doch nicht schon von Anfang an. Der erste Kilometer war dann auch viel zu schnell mit 5:06 Minuten. Ich versuchte etwas langsamer zu laufen und hatte nach drei Kilometer endlich ein einigermaßen passendes Tempo. Die ersten fünf Kilometer waren aber mit 26:30 Minuten trotzdem zu schnell.
Wider Erwarten säumten viele Zuschauer die ersten Kilometer und bedachten uns mit freundlichem Beifall. Die Strecke ging einige Zeit noch in Heilbronn dem Neckar entlang, über eine Brücke und auf der anderen Seite wieder am Fluß entlang zurück. Etwa bei Kilometer fünf verließ man Heilbronn (Sontheim). Wir ließen Flein links liegen und liefen über Feldwege nach Talheim. Sobald man in Wohngegenden kam standen Zuschauer an der Laufstrecke und spendeten Beifall. Vor allem die kostümierten Läuferinnen und Läufer riefen Begeisterung hervor.
Bereits auf den ersten Kilometern überholte ich das Brautpaar. Jeder wußte offensichtlich von dem Vorhaben und wünschte ihnen viel Glück. Auch einen als Schnecke angezogenen Läufer überholte ich. Auf dem Schirm seiner Mütze hatte er die Fühler angebracht und auf dem Rücken ein großes Schneckenhaus aus Stoff befestigt. Mit jedem Schritt wippte das Gebilde leicht hin und her. Der war auch nicht zu beneiden.
Die ersten Steigungen waren zu überwinden. Die etwa 50 Höhenmeter verteilten sich aber auf zwei Kilometer und waren daher einigermaßen leicht zu laufen. Wir erreichten Talheim (Kilometer 10). Immer noch war ich mit 5:22 pro Kilometer auch die zweiten 5 Kilometer zu schnell, trotz der Steigung. Hoffentlich mußte ich das später nicht bereuen. Also noch etwas gezügelt und den Puls auf die vorgesehenen 130..134 gebracht.
So wie es aussah, wurde in Talheim ein Fest gefeiert, Zelte und Verpflegungsstände waren aufgebaut und eine Menge Leute waren zu sehen. Wir wurden freundlich empfangen und mit Beifall durch den Ort begleitet. Es ging ständig leicht bergauf. Beflügelt von den Anfeuerungen hatte ich am Ende des Ortes einen Puls von über 140. Verflucht, das mußte besser werden.
Zum Glück machte das Wetter mit. Besser hätte es gar nicht sein können, etwa 16 Grad und der Himmel mit Wolken bedeckt, so daß die Sonne nicht durchkam. Auch sahen die Wolken nicht nach Regen aus.
Hinaus aus Talheim, erst der Straße entlang und dann über Feldwege Richtung Laufen. Die ersten beiden Kilometer noch leicht hoch (20 Meter), dann drei Kilometer bis Laufen knapp 50 Meter bergab. Diese fünf Kilometer hatte ich nahezu in der richtigen Zeit geschafft: 5:26 pro Kilometer, Puls im Schnitt 133. Eigentlich ideal, aber ich hatte kein sehr gutes Gefühl. Ich spürte bereits ganz sanft meine Oberschenkel und beide Knie meldeten sich ganz zaghaft. Und dann waren da oberhalb beider Fußknöchel auf der Innenseite leichte Schmerzen. Das kannte ich bereits von meinem ersten langen Lauf nach Paris. Außer dem Knochen ist da eigentlich überhaupt nichts. Vielleicht sind irgendwelche Muskeln dort angesetzt, aber warum die so belastet sein sollten, daß sie weh taten konnte ich nicht begreifen. Aber alles hielt sich in sehr erträglichen Grenzen und ich lief normal weiter. Wenn es bergauf ging, waren alle Schmerzen beinahe verschwunden, aber bergab meldeten sich alle vier Stellen.
Auch in Laufen gab es an verschiedenen Stellen der Strecke entlang Zelte, Buden und jede Menge Zuschauer die uns anfeuerten. Immer wieder stand auch ein Bewohner mit einem Gartenschlauch mit Sprühkopf da und bot durch den Wasserregen eine Abkühlung. Es war bewölkt und ich brauchte das nicht. Durch das Schwitzen war ich eh klatschnaß. Viele meiner Mitläufer nahmen die Erfrischung jedoch gerne an. Andere Zuschauer standen mit einer Sprudelkiste da und die ganze Familie war beschäftigt, Becher mit Wasser zu füllen und uns eine Erfrischung anzubieten. Die bisherigen Getränkestationen waren jedoch stets gut ausgestattet, so daß ich die zusätzlichen Angebote auslassen konnte.
Wir verließen Laufen und liefen der Straße entlang Richtung Hausen. Dort wo wir den Verkehr queren mußten, stand jeweils Polizei und hatte die Durchfahrt gesperrt. Die wartenden Autos bildeten oft lange Schlangen. Immer noch war die Läuferschar recht dicht, so daß keine Lücke da war, groß genug, um ein paar Autos durch zu lassen. Aber geduldig warteten die Autos, obwohl sicher 10 bis 15 Minuten Wartezeit keine Seltenheit war.
Die vier Kilometer bis Hausen ging es kaum merklich bergauf. Dummerweise hatte ich vergessen, tags zuvor ein Power Gel zu kaufen. Also mußte ich mit dem Energie Riegel vorlieb nehmen, den ich bis jetzt in der Hand mitgetragen hatte. Ob mein Magen wohl in der Lage wäre, daraus die notwendigen Kohlenhydrate zu holen? Normalerweise dauerte das bei einem Energie Riegel bis zu zwei Stunden und während des Laufens schaltete die Verdauung auf Sparflamme, so daß das nochmals verzögert wird. Hoffentlich reichte es. Bei einem Power Gel standen die Kohlenhydrate wesentlich schneller zur Verfügung und in Frankfurt und auch in Paris hatte das in der Praxis ja auch funktioniert - aber wie gesagt, ich hatte keinen.
Wieder erwartete uns ein Ortsfest und Zuschauer, die uns anfeuerten. Wenn meine schmerzenden Beine nicht gewesen wären, hätte ich alles noch angenehmer empfunden. Aber immer noch hielten sich die Beschwerden in Grenzen und sie verstärkten sich auch nicht.
Bei Kilometer 20 verließen wir Hausen der Straßen entlang in Richtung Brackenheim. Die letzten fünf Kilometer hatte ich mit dem perfekten Kilometerschnitt von 5:30 gemacht, Puls 135, also alles im grünen Bereich. Trotzdem war ich etwas skeptisch, ob ich das so durchhalten würde, vor allem, weil der stärkste Anstieg noch kam. Mal sehen. Ich lief gleichmäßig weiter und genoß den Lauf mit seiner ganzen Ablenkung durch Mitläufer und die Zuschauer.
Schon nach einem Kilometer waren wir am Ortseingang von Brackenheim und liefen in der Nähe des Halbmarathon Startpunktes vorbei. Natürlich gab es auch in Brackenheim Feststimmung und durch den ganzen Ort hindurch wurden wir wieder angefeuert. Es ging auf und ab und dann mit sanftem Anstieg hinaus und noch einen Kilometer die Straße entlang. Immer mit ganz leichter Steigung. Kurz vor Kilometer 25 verließen wir die Straße und weiter ging es auf Feldwegen den Weinbergen entlang. Die letzten fünf Kilometer hatte ich nur noch einen Schnitt von 5:55 Minuten pro Kilometer. Das ständige Auf und Ab und meine begrenzten Reserven ließen nicht mehr zu. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Aus den Informationen aus dem Web wußte ich, daß es jetzt nach unten gehen mußte. Ich zitiere: "Die letzten 18 Kilometer verlaufen eben oder führen leicht bergab." Ich war also guter Dinge obwohl die Weinberge immer näher kamen. Verschiedene Mitläufer um mich herum machten sich Sorgen, ob es da wohl noch hoch gehen würde. Einer neben mir war mir schon aufgefallen, ein kräftiger Mann, mit verwegenem Piratentuch auf dem Kopf. Er deutete nach vorne und meinte, daß wir da hoch müßten. Ich beruhigte ihn mit meiner Weisheit aus dem www. Aber ganz glaubte er mir nicht. Er war Schreinermeister und lief im Rahmen der Handwerksmeisterschaft mit, 58 Jahre war er, wie er bereitwillig mitteilte.
Mittlerweile war nicht mehr zu übersehen, daß es ständig leicht bergauf ging. Irgendwas mit den 18 Kilometern konnte nicht stimmen. Keiner meiner Mitläufer glaubte mir mehr, daß es nur noch bergab gehen würde und auch ich war skeptisch. Den Handwerksmeister hatte ich hinter mir gelassen. Ich sah, daß immer mehr Läufer vor mir zu gehen begannen. So weit war ich noch lange nicht, rechter Hand vor uns lagen Weinberge und ich trabte unverdrossen vor mich hin. Puls immer unter 140. Der Weg schwenkte nach rechts und eine gewaltige Steigung lag plötzlich vor mir. Zahllose Läuferinnen und Läufer waren auf dem Steilstück zu sehen und die meisten davon gingen. Mehr als 70 Höhenmeter mußten auf kurzer Distanz überwunden werden, das steilste Stück auf den letzten 300 Metern. Noch etwa eine Minute lang lief ich den Weg hoch und begann dann auch zu gehen. Es rentierte sich einfach nicht, an dieser Steigung unnötig Reserven zu verbrauchen.
Viele Zuschauer standen den Berg hoch am Wegesrand und feuerten uns an. So etwa bei Kilometer 27 .. 28 erreichten wir den höchsten Punkt und nun ging es bergab, aber genauso steil wie aufwärts. Mit wackeligem Schritt überwand ich auch diese Prüfung. Nach wenigen Minuten nahm das Gefälle ab und wir streiften Neipperg, wo uns wieder viele Zuschauer anfeuerten. Noch einmal ging es ganz leicht hoch und fortan nur noch eben oder leicht bergab. Da hatten sie sich im Web eben um vier Kilometer vertan!
Bei Kilometer 30 mein nächster Meßpunkt. Wie nicht anders zu erwarten, hatte ich die letzten fünf Kilometer einen miserablen Schnitt: 6:12 auf den Kilometer. Wenn ich nicht mehr zulegen konnte, war es aus mit einer Zeit unter vier Stunden. Ich baute also darauf, daß es nicht mehr hochgehen würde und legte etwas zu. Von meinem Gefühl her merkte ich aber, daß es knapp werden würde. Die Oberschenkel signalisierten deutlich, daß ich bereits 30 Kilometer gelaufen war. In Frankfurt und auch in Paris hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch gewaltige Energien und konnte deutlich schneller laufen. Aber das war heute nicht drin.
Ich lief so vor mich hin. Der Weg führte über Feldwege nach Nordhausen und weiter nach Nordheim. Dort hatte ich mein erstes Blockpraktikum in der Schule gemacht. Aber die Gegend war mir vollkommen unbekannt. Das Praktikum lag aber auch bereits 27 Jahre zurück.
Das Läuferfeld hatte sich jetzt deutlich auseinander gezogen. Immer wieder sah man welche gehen. Schon seit längerem sah ich vor mir einen Läufer. Er mußte etwa mein Tempo gehen, denn ich kam ihm nur unmerklich näher. Sicher zwei Kilometer dauerte es, bis ich kurz hinter ihm war. An seiner rechten Wade hatte er eine mordsmäßige Scharte, ein Teil der Wade fehlte und die ganze Haut war vernarbt. Etwa bei Kilometer 33 hatte ich ihn eingeholt und sprach ihn an. Er fragte mich, was für eine Zeit ich mir vorgenommen hätte. "3:50 Stunden wäre schön" antwortete ich. Auch er wollte unter 4 Stunden laufen. Gemeinsam rechneten wir aus, welchen Schnitt wir laufen müßten. Etwas schneller als 6 Minuten pro Kilometer und es müßte reichen :-).
Den nächsten Kilometer liefen wir in 5:24 Minuten. Nicht schlecht! Währenddessen unterhielten wir uns. Er hätte heute Jubiläum, meinte er, das sei sein 10. Marathon. Wo er denn überall schon gelaufen sei, fragte ich? "Berlin, Karlsruhe, Neuseeland". Die anderen erwähnter er nicht, oder ich hab es vergessen. Wieder war ein Kilometer vorbei. Mein Mitläufer stoppte jeden Kilometer: 5:26 Minuten, so konnte es weiter gehen.
Bei Kilometer 35 hatten wir Nordheim erreicht. Wieder das selbe Bild wie überall: ein Fest, viele Zuschauer. Die letzten fünf Kilometer hatte ich wieder einen Schnitt von 5:27 Minuten. Wenn ich das durchhielt, würde es eine Super Zeit geben. Aber irgendwie glaubte ich nicht daran. Die Reserven, die ich in Frankfurt und Paris gespürt hatte - nichts davon war zu bemerken. Zum Glück aber schmerzten meine neuralgischen Punkte kaum noch.
Wir unterhielten uns angeregt und ließen die Getränkestation aus. "5:36 Minuten für den letzten Kilometer", meinte mein Mitläufer. Seine beste Zeit beim Marathon lag um die 3:50 Stunden. Aber in Neuseeland brauchte er 4:11 Minuten. Der Marathon dort war am Neujahrstag, also am 1. Januar. Die Silvesterparty dauerte bis 2 Uhr Nachts. Dann kam ein gewaltiger Regen und beendete das Buffet, das im Freien aufgebaut war. Also ab ins Bett und eine Stunde später schon wieder aufgestanden. Mit dem Bus wurden sie dann eine Stunde lang zum Start gefahren. Morgens um 6 Uhr sollte es losgehen und pünktlich zum Start gab es einen gewaltigen Regen. Eine Stunde lang liefen sie im strömenden Regen und dann kam die Sonne und die Hitze. Das muß ein subtropisches, feucht warmes Klima gewesen sein, das dann auch keine Rekordläufe zuließ.
Ich war gottfroh, daß wir ideales Wetter hatten. Bisher war es immer bewölkt und daher von der Temperatur sehr angenehm. Wie es hätte sein können, spürte ich in den ganz kurzen Augenblicken, an denen die Sonne herauskam; sofort wurde es drückend warm.
Den nächsten Kilometer schafften wir in 5:44 Minuten. Unser Gespräch war verstummt, beide wollten wir unseren Atem sparen, wir brauchten ihn, um einigermaßen vorwärts zu kommen. Immer wieder wollte ich mich zurückfallen lassen und langsamer machen, aber irgendwie wollte ich meinen Mitläufer nicht im Stich lassen, dem es sicher nicht besser ging wie mir. Noch drei Getränkestellen kamen. Jedes Mal griffen wir zu und tranken etwas. Kurz verloren wir uns jeweils aus den Augen aber kurz danach liefen wir wieder zusammen. Obwohl der Atem jetzt merklich kürzer wurde, fragte ich ihn nach seiner Wade. Das war ein Motorradunfall. Damals prophezeite man ihm, daß er nur noch mit Krücken laufen könne. Aber offensichtlich kam es anders und nach jedem Marathon schickt er seinem Chirurgen eine Postkarte. Bisher hat er keinerlei Beschwerden oder Einschränkungen beim Laufen.
"5:54 Minuten der letzte Kilometer". Es ging einfach nicht mehr schneller und immer noch 4 Kilometer vor uns. Aber obwohl es meinem Mitläufer sicher nicht viel besser ging, startete er nach dem Trinken jedesmal wieder schneller, während ich etwas länger verweilte um mich ein wenig zu erholen. Jedesmal schaute er zurück und zeigte mir damit, daß er auf mich wartete. Irgendwie war er wohl auch auf mich angewiesen. Ich schloß also jeweils wieder auf.
Dieses Jahr hatte er schon zwei Marathon läufe hinter sich, seinen nächsten Marathon läuft er im August im Hunsrück und dann geht es noch nach New York. Der muß auch ganz schön verrückt nach dem Laufen sein. Etwa 2.500 Mark kostet ihn die Reise nach New York und die Startgebühr nochmals DM 200,-. Aber wenn man das nicht über einen Reiseveranstalter abwickelt, bekommt man eben keine Startkarte.
Bei Kilometer 39 kamen wir wieder an den Neckar und liefen am Ufer entlang Richtung Heilbronn. Schmerzen spürte ich schon viele Kilometer kaum mehr, ich war nur noch erschöpft und lief einfach so vor mich hin. Die Zeit war mir jetzt egal, nur noch anständig ankommen. Bei der letzten Getränkestation bei Kilometer 40,5 wurde mir schwindlig, kurz etwas dunkel vor den Augen und ich befürchtete schon, daß ich mich setzen müßte. Aber nach wenigen Sekunden war ich wieder voll da und neben meinem Mitläufer. In Paris hatte ich die letzten sieben Kilometer jede Getränkestation ausgelassen, weil ich sie nicht brauchte und stürmte nur Richtung Ziel. Heute mußte ich jede Station anlaufen, weniger des Trinkens wegen, sondern als Alibi für mich, wenigstens einige kurze Augenblicke langsam machen zu können.
Immer noch liefen wir nebeneinander her. Da kam ein minimaler Anstieg von vielleicht zwei Höhenmetern. Alle um uns herum fluchten. Normalerweise würde ich den nicht mal wahrnehmen, jetzt aber war ich entschlossen, zu gehen und machte das auch sofort. Mein Mitläufer drehte sich nach mir um: "Auf, nicht nachlassen!" Ich riß mich zusammen und schloß wieder auf. Lange konnte es ja nicht mehr dauern, bis wir im Ziel waren. Und schon kam die Brücke in Sicht, auf der wir gestartet waren. Am Ende der Brücke mußte ja das Ziel sein. Das beflügelte mich, so daß ich den Anstieg durchlief. Mein Mitläufer war jetzt sogar hinter mir.
Aber wo war das Ziel? Der Startpunkt war abgebaut und es ging wieder hinunter, wie vor knapp vier Stunden. Nach etwa hundert Metern dann bogen wir nach links in das Frankenstadion ein. Viele Zuschauer säumten die Straße und den Einlauf ins Stadion. Jetzt konnten es nur noch höchstens 400 Meter bis zum Ziel sein. Unter Beifall liefen wir ins Stadion und auf die Aschenbahn. Das Ziel vor Augen, konnte ich tatsächlich noch zulegen. Aber wo war mein Begleiter. Schon einige Meter hinter mir, kam er nur noch langsam voran. Als er sah, daß ich auf ihn warten wollte, forderte er mich auf, nicht zu warten.
Ich legte nochmals zu und kam tatsächlich in einigermaßen anständiger Form vollends bis ins Ziel. 3 Stunden, 58 Minuten und 48 Sekunden - alle Achtung Eberhard, das hast du gut gemacht! Ich war glücklich, daß ich das geschafft hatte.
Insgesamt kamen 1.112 Läuferinnen und Läufer ins Ziel, der letzte nach 6:25:22 Stunden. Ich wurde 540., also noch knapp in der ersten Hälfte. In meiner Altersklasse (M55) belegte ich den 22. Platz von 56, auch nicht schlecht. Allerdings brauchte der erste meiner Klasse nur 3:11:17 Stunden; wie der das geschafft hat? sicher Doping ;-).
Die Rasenfläche war dicht belegt mit erschöpften Läuferinnen und Läufern, die zum Teil flach da lagen und sich erholten. Das mußte ich auch machen und suchte mir ein freies Plätzchen. Als ich endlich was gefunden hatte, wollte ich mich nicht mehr hinlegen. Wer weiß, ob ich ohne Hilfe hätte wieder aufstehen können. Also wieder zurück und nach den Getränken Ausschau gehalten. Überall Berge von Getränkekisten, aber niemand der ausschenkte. Sämtliche Flaschen waren leer. Im gesamten Stadion kein Tropfen mehr zum Trinken. Und schon hörte ich den Stadionsprecher, der ankündigte, daß von den Getränkestationen an der Laufstrecke Nachschub geholt würde. In spätestens 10 bis 15 Minuten könne man wieder trinken.
Ich erinnerte mich wieder an meinen Begleiter der letzten neun Kilometer. Den hatte ich doch tatsächlich vor lauter Erschöpfung und Suchen vergessen. Ich wollte ihm unbedingt danken für seine moralische Unterstützung. Aber unter den tausenden von Leuten war er nicht mehr zu finden. Nun ja, an Hand der Ergebnislisten kann ich ihn vielleicht herausfinden und Verbindung mit ihm aufnehmen.
Ich setzte mich ein paar Minuten auf einen Platz auf den Zuschauerrängen und wollte auf den Getränkenachschub warten. Kurze Zeit später wurde mir das aber zu dumm. Wer weiß, ob die in 15 Minuten tatsächlich was hatten. Da ich sowieso zurück nach Balingen zu einer Geburtstagsfeier mußte machte ich mich kurzerhand auf den Weg zum Auto.
Kaum dort angekommen spürte ich schon, daß ich mich hinlegen mußte, wenn mir nicht schlecht werden sollte. Sofort legte ich mich quer über die Vordersitze. Zu allem Überfluß bekam ich jetzt auch noch an allen unmöglichen Stellen im Oberschenkel und den Waden Krämpfe.
Nach etwa 10 Minuten konnte ich mich wieder aufrichten. Ganz ok war ich noch nicht, aber liegen bleiben wollte ich auch nicht. Ohne mich umzuziehen startete ich und fuhr los. Noch zweimal mußte ich unterwegs anhalten, da mir schlecht wurde. Ein drittes Mal sogar auf der Autobahn die nächste Ausfahrt raus und sofort rechts ran. Zum Glück, oder aus weiser Voraussicht hatte ich Klopapier dabei. Anschließend ging es mir viel besser, so daß ich sofort weiterfahren konnte. Tatsächlich kam ich dann problemlos vollends nach Hause.
Jämmerlich humpelnd kam ich hoch in die Wohnung. Meine Beine schmerzten an allen möglichen Stellen. Zwei Liter Sprudel und eine Packung Kekse später war ich wieder voll auf dem Damm. Ich legte mich 15 Minuten in ein heißes Vollbad und stieg wie neugeboren heraus. Problemlos ging auch wieder das Gehen. Ich startete also Richtung Balingen und konnte das Geburtstagsessen ohne Einschränkung genießen.
Fazit: Die Strecke und die Landschaft war ok, auch die Steigungen konnte man bewältigen. Wahrscheinlich wäre der Lauf ungleich schwerer gewesen, wenn nicht das Wetter so toll mitgemacht hätte. Die Zuschauer waren super und auch die vielen verkleideten Läuferinnen und Läufer brachten viel Stimmung in den Lauf. An einigen Getränkestationen wurde sogar Trollinger ausgeschenkt, den ich aber mit vollständiger Verachtung strafte. Trotz der Strapazen auf den letzten Kilometern war es doch wieder ein schönes Erlebnis. Nichts geht über das Gefühl nach einem Lauf, wenn man es wieder geschafft hat. Wenn nichts dazwischen kommt, bin ich sicher nächstes Jahr wieder dabei. Dann aber mit einem Päckchen Power Gel und einer noch besseren Zeit.
Hier noch meine Herzfrequenzkurve. Bis Puls 151 laufe ich im reinen aeroben Bereich, von 152 bis 158 im Schwellenbereich und ab 159 laufe ich im rein anaeroben Bereich. Mein max. Pulwert liegt bei etwa 177.
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