Grand Raid auf Reunion

Fr.-So., 20.-22. Oktober 2006

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

„Le Grand Raid“, übersetzt vielleicht mit „Der große Ansturm“; aber französisch war noch nie meine Stärke, hat mich in meiner Schulzeit sehr gequält und wäre bei diesem Lauf doch so hilfreich gewesen! Also bin ich auf Wörterbücher angewiesen und da wird raid eben mit „Sturm, Ansturm“ angegeben. Aber der Lauf hat ja noch eine andere, offizielle Bezeichnung, die die Wirklichkeit wohl besser wiedergibt: „La diagonale des fous“ und das ist ziemlich eindeutig mit „die Diagonale der Narren“ oder auch „die Diagonale der Verrückten“ zu übersetzen. Vermutlich will man damit sagen, dass den Lauf nur Verrückte machen - stimmt aber nicht, ich bin nicht verrückt, habe den Lauf trotzdem gemacht und werde ihn wohl wieder machen.

Auf der winzigen Insel Reunion, 50 km breit, 70 km lang, östlich von Madagaskar gelegen, gibt es den Lauf „Le Grand Raid“, der dieses Jahr zum 14. Male stattfand. Die Eckdaten wie 143 km, 8.600 Höhenmeter sind einigermaßen anspruchsvoll, betrachtet man aber das Zeitlimit von 63 Stunden, klingen die Zahlen nicht mehr so extrem. Mein Lauffreund Bernhard war bereits zwei Mal dabei (2003 und 2004) und überredete mich, dort auch teilzunehmen. Der Lauf sei zwar schwer, irgendwann unterwegs würde ich ihn auch verfluchen, dass er mich überredet hätte, aber ich als Ultraläufer müsse dort gelaufen sein, sonst würden mir die höheren Weihen fehlen und Petrus würde mich einstmals von seiner Türe nach unten weisen: „Was, du hast den Lauf auf Reunion nicht gemacht? Ab, 100 Jahre in der Hölle schmoren!“

Nun, das wollte ich mir nicht antun, also meldete ich mich zu dem Lauf an und war guter Dinge. Mit einigen Bergmarathons (Zermatt, Jungfrau), zwei Ultras in den Bergen (Gondo event und UTM86) und vielen Marathons wähnte ich mich gut vorbereitet und freute mich auf die Herausforderung auf der Insel im Indischen Ozean.

Um ein Fazit mal vorweg zu nehmen: Der Lauf war mehr als anspruchsvoll, er war sauschwer, aber ich möchte ihn nicht missen und Bernhard habe ich unterwegs nie verflucht. Im Gegenteil, ich bin ihm dankbar, dass er mich überredete, hier zu laufen. Von alleine wäre ich sicher nie auf die Idee gekommen, an dem Rennen teilzunehmen, vermutlich hätte ich es mir nicht zugetraut.

Anreise

Nach 11 Stunden Flug (ca. 9.500 km) landeten wir am Dienstag, 17.10.2006 gegen 10 Uhr Ortszeit (+2 h Zeitverschiebung) auf dem Flugplatz von St. Denis, der Hauptstadt der Insel, im Norden gelegen. Da der Flughafen direkt am Meer liegt, hatten wir schon beim Anflug und bald auch im Freien den richtigen Eindruck: blaues Meer, blauer Himmel, blühende Pflanzen, angenehme Wärme – wir waren vom Herbst in den Frühling geflogen.

Anreise Pascal Empfang Abflug Eberhard in Stuttgart Paris Orly Paris Orly
Anflug auf St. Denis Wir werden abgeholt Holm - Kunibert usw. Frühling

Nach der Einquartierung im Hotel gingen wir essen und machten anschließend einen Spaziergang an den Strand.

Unser erstes kreolisches Essen   Spaziergang ... ... zum Meer und ... ... am Meer entlang.
         

Am Mittwoch dann ein Ausflug ins Landesinnere, in den Cirque de Salazie

Nachmittags holten wir im Stadion La Redoute unsere Startunterlagen ab.

Donnerstag Nacht, genauer Freitag um 1.00 Uhr war Start, also richteten wir am Donnerstag Vormittag alles hin, was wir unterwegs mitnehmen wollten. Während des Laufes war ein Rucksack mit Pflichtausrüstung vorgeschrieben, die man auch unterwegs jederzeit auf Verlangen vorzeigen musste. Weiterhin konnte man sich an ein paar Stellen unterwegs je ein Gepäckstück transportieren lassen. Bernhard meinte zwar, das sei nicht notwendig, ich wollte trotzdem an zwei Stellen etwas deponieren lassen

Nachdem ich fertig war, versuchte ich zu schlafen, was mir aber nur mühselig gelang, allerhöchstens waren das zwei Stunden. Ab 16 Uhr unterhielten wir uns auf der

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Hotelterrasse. Am frühen Abend dann gingen wir in ein Chinarestaurant, holten anschließend all unser Gepäck aus dem Hotel und marschierten zur Station, wo die Busse zum Startort im Süden der Insel abfuhren. Vier Busse insgesamt waren es, die um 21 Uhr im Konvoi losfuhren, die Küstenstraße hinunter bis zum Start nach Cap Méchant. Unterwegs fuhren wir so ziemlich in jedes kleine Kaff und nahmen jeweils ein paar Läufer mit.

Wir kamen gegen 23 Uhr an. Nach einem kurzen Wegstück durch den Ort waren wir endlich im Startbereich, einem Sportplatz. Erst wurde der Barcode auf der Startnummer gescannt, dann gab es eine oberflächliche Gepäckkontrolle, man musste die Pflichtausrüstung vorzeigen und war dann im Startbereich. Dort gab es Kaffee, Tee, Rosinenbrötchen, auf einer Bühne wurde Musik gemacht und langsam füllte sich der Sportplatz.

Am Nachmittag vor dem Rennen ... ... essen wir beim Chinesen Bereit!   Wir gehen zur Bushaltestelle

Während wir warteten gab es noch jede Menge Infos auf französisch, die ich alle nicht verstand. Also unterhielt ich mich lieber mit meinen Mitläufern und ließ vor allem die Atmosphäre auf mich wirken.

Adrian und Pascal wollten eine gute Zeit laufen und stellten sich in den vorderen Bereich. Wir anderen waren durch Bernhards Bericht vorgewarnt und wollten ganz am Ende loslaufen. Laut Bernhard gab es beim ersten Aufstieg einen solchen Engpass, dass es zu Staus und großem Gedränge kommen würde. Warum also dann im Mittelfeld starten?

Das Rennen

Freitag, 20.10. - Vom Start bis nach Cilaos

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Um 1 Uhr ging es dann pünktlich los. Alle 2.400 Starterinnen und Starter zählten die letzten Sekunden: „cinq, quatre, trois, deux, un, zéro“ und das Abenteuer begann. Alle machten ihrer Anspannung Luft durch Jubeln, Klatschen, Schreien und was weiß ich noch. Die Trommler waren von der Bühne zum Stadionausgang gewechselt und gaben dort ihr Bestes und so liefen wir unter Getöse und Beifall durch das Zuschauerspalier hinaus auf die Straße. Zu dieser für mich ungewohnten Fröhlichkeit kam noch das südländische Aussehen der Menschen und vor allem die exotischen Pflanzen und Bäume links und rechts der Straße: Ananas, Kokospalmen, Zuckerrohr, Vacoabäume, ...  Dies hier übertraf noch bei Weitem die Verabschiedung in die Nacht von Biel. Noch einige hundert Meter lang waren die Straßen dicht gesäumt durch Beifall klatschende Zuschauer, die dann aber immer weniger wurden und bald standen nur noch hin und wieder Zuschauer oder Zuschauergrüppchen an der Strecke.

Die ersten vier Kilometer verliefen auf einer beleuchteten Straße parallel zur Südküste, ab Kilometer zwei wurde die Bebauung ganz dünn, dann streifte man wieder ein kleines Dorf und lief dann endgültig im Dunkeln. Wenn es nicht Nacht gewesen wäre, hätte man bis hierher rechter Hand das Meer sehen können. Kurz vor Mare Longue ging es dann scharf links weg durch Zuckerrohrfelder nach Norden.

Nur noch unsere Stirn- und Taschenlampen gaben Licht. Zu meinem Leidwesen hatten wir Neumond, wobei ich da nicht die fehlende Beleuchtung vermisste, sondern ich hätte zu gerne die Mondsichel fotografiert, die hier auf der Südhalbkugel nach oben, bzw. nach unten offen ist. Bald aber erlebte ich die Vorteile des fehlenden Mondes, den herrlichen Sternenhimmel, bis hinunter zum Horizont war alles mit Sternen übersät – noch niemals habe ich einen solch phantastischen Sternenhimmel gesehen.

Bernhard, Holm und ich wollten zusammen laufen. Wie üblich aber hatte sich Bernhard auf den ersten Kilometern hinreißen lassen und war gejoggt, so dass er bald außer Sichtweite war. Nun, seine Euphorie würde bald vorbei sein und tatsächlich beruhigte er sich nach vielleicht vier Kilometern und marschierte von da an mit uns.

Die ersten knapp sechzehn Kilometer verliefen auf besten Wegen, zuerst Asphalt, danach breite Waldwege und nur 700 Höhenmeter, also kein Problem. Aus allen Berichten über diesen Lauf wusste ich aber, dass der anschließende Aufstieg sehr anstrengend würde. Auch hatte uns Bernhard oft genug davor gewarnt und vor allem das Höhendiagramm zeigte es ganz unmissverständlich – von Kilometer 16 bis 21 würde es 1.400 m hoch gehen. Auch war ich darauf eingestellt, dass der Weg zum schmalen Pfad wird, auf dem keine zwei Menschen mehr nebeneinander gehen können und der Untergrund würde schwer werden.

All das erwartete ich, hatte auch gehörig Respekt davor, trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, während wir noch locker auf dem leichten Weg unterwegs waren, Bernhard ein wenig auf den Arm zu nehmen: „Ich weiß nicht, was Du immer so erzählt hast, aber der Grand Raid ist doch bestens zu laufen! Da hast du aber grandios übertrieben.“ Wie erwartet erkannte Bernhard mein „auf den Arm nehmen“ nicht, hielt meine Behauptung für bare Münze, sein Adrenalinspiegel stieg sofort an, er entrüstete sich entsetzlich, konnte vor Aufregung nicht mehr reden, lachte aber ausgesprochen hämisch und nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte und wieder reden konnte, meinte er überaus drohend, belehrend und auch mitleidig, dass ich mich schon noch umschauen würde. Nun, ich war auf alles gefasst!

Schon seit längerem liefen wir auf einem Waldweg, der sanft hoch führte. Obwohl wir nicht joggten und mein Puls nur um die 100 herum pendelte war mir schon einige Zeit nicht ganz wohl. Ob das am Essen beim Chinesen lag? Hoffentlich würde das besser werden. Irgendwann dann schlug ich mich nach links hinter eine Pflanze und erledigte dort das Geschäft, zu dem man Papier der weichen Sorte braucht. Fünf Minuten zügiges Gehen und leichtes Joggen dauerte es bis ich wieder zu Bernhard und Holm aufgeschlossen hatte. In der Tat ging es mir ab jetzt besser.

Immer wieder waren mir unterwegs Läufer aufgefallen, die an Bäumen lehnten und sich dehnten, als ob sie bereits jetzt Krämpfe hätten. Das konnte doch nicht möglich sein? Wir marschierten und hatten nach 2:52 Stunden Mare Longue Camphriers (km 15,9) erreicht, die erste richtige Verpflegungsstation, zuvor hatte es nur einmal zu trinken gegeben. Ich trank etwas, füllte meine Flaschen auf, machte ein paar Bilder und nach etwa fünf Minuten gingen wir zügig weiter.

Bernhard und Holm Warum dehnen die? erst 16 km! Bald geht es hoch

Fr., 3:55 Uhr, 685 m, km 15,9 - Mare Longue Camphriers

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Nur noch wenige Minuten und es ging rechts weg in einen schmalen Pfad, steil aufwärts. Hier also begann der berüchtigte Aufstieg hoch zum FocFoc. Nun, was soll ich sagen. Bernhard hatte soviel davor gewarnt, dass es sehr steil sei, vor den Dränglern, vor dem schlechten Untergrund, dass ich keinerlei Probleme hatte, als ich all das dann auch antraf. Dass es steil war versteht sich von selbst, 5 km und 1.400 Höhenmeter, das ging nicht anders. Der Pfad führte hoch durch Wald, besser Urwald, der Untergrund war teilweise rutschig und von groben Wurzeln übersät. Steil, rutschig und Wurzeln, zu so etwas braucht man Kraft und manchmal auch die Hände, die mithelfen mussten. Obwohl wir im hinteren Drittel waren, war das Läuferfeld immer noch dicht an dicht. Sobald der Pfad etwas steiler oder schlechter begehbar war, gab es einen Stau, der sich oft nur langsam wieder auflöste. Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, wenn wir im Mittelfeld gewesen wären. Vermutlich aber auch nicht viel schlechter.

Richtig anstrengend war der Aufstieg nicht, er zog sich nur ewig hin. Gegen 5.30 Uhr wurde es zunehmend heller und nach weiteren zwanzig Minuten konnte ich meine Lampe endgültig ausschalten. Inzwischen waren die Bäume niedriger geworden und eine Zeit lang sah es richtig urwaldmäßig aus. Weitere vierzig Minuten vergingen und endlich konnten wir hinter uns das Meer sehen – ein schöner Anblick, der wieder Auftrieb gab, die verbliebenen Höhenmeter mit neuem Schwung anzugehen.

Bereits hier wurde mir klar, wie hilfreich ein Höhenmesser bei diesem Lauf wäre. Kilometerschilder gab es natürlich nicht, man kletterte also ziemlich orientierungslos was die Entfernungen anbelangte. Wir waren jetzt bereits zweieinhalb Stunden auf diesem Pfad und ich hatte keine Ahnung wie weit es noch zur Verpflegungsstelle FocFoc war. Ein Höhenmesser würde hier ziemlich genaue Schätzungen ermöglichen.

Ich lief also unverdrossen weiter, bemerkte mit Freude, dass der Bewuchs niedriger war, eine 1-2 m hohe Baumheide mit gelblichen Flechten. Der Weg vor uns konnte immer weiter eingesehen werden, er wurde weniger steil und so etwas wie ein Bergrücken war vor uns zu erkennen. Tatsächlich dauerte es nur noch eine weitere Stunde und wir hatten den Aufstieg hinter uns. Es ging zwar ab und zu noch moderat hoch, aber die Hauptarbeit war erledigt. Hier oben auf etwa 2.200 m gab es nahezu keine Pflanzen mehr, nur noch Flechten und Moose. Vermutlich liegt das daran, dass wir jetzt im Einflussbereich des Vulkans waren.

Fr., 8:46 Uhr, 2.250m, km 23,7- FocFoc

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Knapp fünf Stunden hatte der Aufstieg gedauert. Die vorgeschriebenen 1 Liter Wasser und das Essen, das man dabei haben musste, machte also ausgesprochen Sinn. Wir aßen und tranken ausgiebig und füllten unsere Trinkvorräte wieder auf.

Das Zeitlimit an dieser Station lag bei 9 Uhr, also machten wir uns bald wieder auf den Weg. Der folgende Abschnitt würde einfacher werden, kein Anstieg mehr, nur noch wenig auf und ab. Wir hatten bald den riesigen Krater erreicht, in dessen Mitte der noch aktive Vulkan „Piton De La Fournaise“ lag. Etwa alle 18 Monate gibt es eine Eruption; damit zählt dieser Vulkan zu den aktivsten. Dabei ist das Magma relativ dünnflüssig, kann daher gut entweichen und fließt dann in verästelten Stömen hangabwärts. Wenn es soweit ist, setzten sich Zehntausende ins Auto und fahren hoch, um das Erlebnis zu feiern.

Einige Kilometer lang liefen wir am Kraterrand entlang und staunten über die bizarre Landschaft. Der Untergrund war entsprechend, mal ordentlicher Weg, mal Steinbrocken, mal erstarrte Lavafelder, also alles, was das Herz des Ultraläufers erfreut.

 

Seit meinem ersten Aufenthalt hinter einer Pflanze fühlte ich mich deutlich besser, aber immer noch spürte ich hin und wieder leichtes Unwohlsein. Bei passender Gelegenheit schlug ich mich daher nach rechts weg und erledigte nochmals das Geschäft, zu dessen Vollendung man weiches Papier benötigt. Tatsächlich fühlte ich mich von jetzt an, bis zum Ende des Laufes, bestens. Da muss ich wohl etwas Falsches gegessen haben.

Für die 7 km bis zur nächstenVerpflegungsstelle „Route du volcan“ benötigten wir nur eine Stunde, konnte man doch hier, trotz stellenweise schlechtem Untergrund, immer wieder auch joggen.

Fr., 9:50 Uhr, 2.320 m, km 30,9 – Route du Volcan

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

An dieser größeren Verpflegungsstation gab es das erste Mal auch die von Bernhard erwähnten Hähnchenteile mit Reis, Nudeln oder Brot, aber auch das übliche Wasser, Rosinen, Orangen, Riegel, Cola, Nudelsuppe war hier vorhanden. Das Zeitlimit hatten wir lässig eingehalten, wir ließen uns daher hinreißen, ausgiebig Zeit zu verschwenden, einige Minuten setzte ich mich sogar auf einen Stuhl. Nach zwanzig Minuten Schlemmen und Ausruhen ging es weiter. Der Aufenthalt hatte zwar einiges vom Zeitpolster weggenommen, das war uns aber egal, denn der Lauf sollte doch auch Vergnügen sein, nicht nur Anstrengung.

Nach den angenehmen Temperaturen in der Nacht war es schon seit einiger Zeit warm geworden. Keine Wolke am Himmel, die Sonne konnte ungehindert scheinen. Wenn wir nicht auf 2.300 m Höhe gewesen wären, wäre es sicher heiß gewesen. So aber waren die Temperaturen gut erträglich. Um keinen Sonnenbrand zu bekommen, hatte ich mich aber an der Station mit Sonnenschutzcreme eingerieben.

Der Weg führte jetzt Richtung Westen, direkt durch die „Plaine des Sables“. Diese Landschaft erinnerte mich an meinen Lauf beim Marathon des Sables, wo man meist in solchen Gegenden unterwegs war. Erst ging es moderat abwärts, dann durchquerten wir die Ebene, vor uns ein Bergzug (Rempart des Balasaltes) den wir bald erreichten. Etwa einen Kilometer lang ging es hoch, moderate 130 Hm, schlechter Untergrund (Steine, Stufen) und das in der prallen Sonne, die einen auch noch auf 2.400 m Höhe ordentlich schwitzen ließ. Bernhard schwächelte hier ein wenig, Holm und ich marschierten unbeirrt vorneweg, bis er oben (Oratoire Ste Thérèse, km 37, 2.400 m, 11:15 Uhr) dann wieder aufgeschlossen hatte.

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Vorsprung Adrian und Pascal ca. 3,5 Stunden.

Ab jetzt ging es stets sanft abwärts auf einigermaßen ordentlich zu laufenden Pfaden. Die Büsche wurden wieder etwas höher und ich fühlte mich rundum gut. Wir passierten den Piton Textor (km 40, 2.165m, 11:40 Uhr) und liefen weiter abwärts. Der Weg war nach wie vor ordentlich und Wolken versperrten der Sonne den Weg, so dass auch die Temperatur nahezu ideal war.

Ganz allmählich hatte sich sich die Umgebung verwandelt, der sandig-steinige Boden war weichem Grasuntergrund gewichen, die Büsche waren übermannshoch, wurden dann weniger und gaben bald den Blick in eine beinahe liebliche Wiesenlandschaft frei. Kühe weideten in mit Stacheldraht umzäumten Bereichen - wir waren in der „Plaine des Cafres“ angekommen.

Die "Plaine des Cafres" ist ein Hochplateau mit sumpfigen Weiden, Ginster und Heckenrosen. Vor 1850 war das Hochplateau sehr unzugänglich und diente etwa hundert Jahre lang entlaufenen Negersklaven als Zufluchtsort (Cafre = Kaffer, abwertende Bezeichnung für Schwarze). Der Name der Hochebene stammt also aus dieser Zeit.

Unser Weg war links und rechts durch Stacheldrahtzaun abgegrenzt, hinter dem Kühe weideten. Immer wieder musste man einen Zaun auf Leitern übersteigen. Für die

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

schnellen Läufer, die viele Stunden vor uns hier rannten, war das sicher sehr lästig, mussten sie doch meist ihren Laufrhythmus unterbrechen, drei, vier oder gar mehr Sprossen auf- und wieder abwärts und dann weiter rennen. Wir Langsamen marschierten hier und hatten daher die extremen Rhythmuswechsel nicht. Ich hatte zwar anfänglich versucht, zu joggen, das aber bald aufgegeben. Dazu war der Untergrund zu anspruchsvoll. Zwar immer noch Wiese, aber der Weg war ausgetreten und stellenweise richtiggehend ausgewaschen, sehr uneben und teilweise waren auch Wurzeln im Weg. Da war zügiges Wandern kräftesparender. Nach den Berichten von Bernhard und anderen hatte ich mir das Überqueren auf Leitern anstrengender vorgestellt und war daher angenehm überrascht, wie leicht mir diese vielleicht 10-15 Überquerungen fielen.

 

 

Nach etwa vierzig Minuten kamen wir auf eine Asphaltstraße! Die meisten Läufer und Läuferinnen begannen hier zu joggen, wenigstens an den Stellen, an denen es leicht abwärts ging. Auch ich schloss mich an, konnte ich doch hier Zeit gut machen. Nach etwa zwanzig Minuten wurde die Straße belebter, immer wieder kam ein Auto entgegen und einmal stand so etwas wie ein Streckenposten da. Meine Französisch Kenntnisse ließen es aber leider nicht zu, zu fragen, wie weit es denn noch sei. Ich lief also hoffnungsfroh den Läufern, die ich vor mir sah, hinterher. Immer wieder kam uns jetzt ein Läufer oder eine Läuferin entgegen, die ganz offensichtlich hier ausgestiegen waren. Rechts und links parkten immer mehr Autos, auch fuhren uns welche entgegen, oder überholten uns. Manchmal musste man richtiggehend ausweichen.

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Fr., 13:59 Uhr, 1.594m, km 50,4 – Mare à Boue

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Die Verpflegungsstelle „Mare à Boue“ war erreicht. Ich aß Hähnchenteile, Reis, Brot, Nudelsuppe, Hähnchenteile, Nudeln und trank immer wieder Cola und Wasser. Selbst einen Stuhl konnte ich ergattern, auch wenn das erst Mal Ärger gab, denn ein müder Läufer musste, auf dem Boden liegend und telefonierend, seinen Kopf daran anlehnen und als ich mich drauf setzte, war ihm das gar nicht angenehm und er schimpfte. Ich fand jedoch einen anderen Stuhl und konnte endlich meine Beine ein wenig entlasten. Nacheinander kamen Bernhard und Holm an und ganz zum Schluss, kurz bevor wir wieder los zogen, war auch Sigrid da.

14:22 Uhr: Gestärkt und dynamisch ging ich wieder los, der Kerveguen wartete. Auf den neun Kilometern dort hin musste man 600 Meter hoch, bis auf  2.200 m. Hört sich harmlos an, war aber viel schwerer, was die knapp vier Stunden aussagen, die wir dafür benötigten. Es begann ganz harmlos, ein schöner Wiesenweg, kaum ansteigend. Bereits nach kurzer Zeit aber wurde der Untergrund deutlich schlechter! Zwar lief man immer noch durch die Wiesenlandschaft der „Plaine des Cafres“, aber der Weg war hier richtiggehend schlammig. Man hatte mit Ästen Abhilfe geschaffen, die man dicht an dicht hintereinander gelegt hatte, aber das war auch nicht ideal zu laufen.

Bald lag die Plaine hinter uns und hohes Buschwerk umgab uns jetzt. Immer wieder ging es steil hoch, leider aber auch immer wieder abwärts. Kurz und schlecht, meine Dynamik ging recht schnell verloren und ich fügte mich in mein Schicksal. Wieder hatte ich mein Tempo gefunden, zügiges Wandern. Holm war mal vor mir, mal hinter mir und gemeinsam arbeiteten wir uns voran. Stets wenn ich einen Höhenzug vor mir sah, meinte ich, das müsse der Kerveguen sein. War man dann aber oben, sah man, dass es wieder abwärts ging und hoch zum nächsten Höhenzug. Weiß der Teufel, welcher Idiot das Höhendiagramm im Roadbook gezeichnet hatte. Später sollte sich meine Vermutung mit dem Idioten noch weiter bestätigen: Mit der Wirklichkeit hatte dieses Höhendiagramm nicht viel gemeinsam. Vermutlich hat man da einem Kind gesagt, es möge ein paar Berge nebeneinander hinmalen. Mit solch finsteren Gedanken befrachtet, marschierte ich nach oben, die Büsche wurden wieder niedriger und es wurde kühler, die Sonne war hinter Wolken und auch der Wind schaffte es nicht, sie zu vertreiben. Endlich, nach beinahe vier Stunden hatten wir unser Ziel erreicht.

Fr., 18:16 Uhr, km 59,5, 2.206 m - Kerveguen

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Ganz unspektakulär präsentierte sich uns der „Gipfel“ des Kerveguen. Der Wind blies stärker hier oben und auch die Büsche waren kein richtiger Schutz davor. Ich zog meine Vliesjacke an und sofort war es wieder angenehm. Am Verpflegungstisch füllte ich meine Energiespeicher wieder vorwiegend mit Cola und Rosinen auf, denn jetzt würde der Abstieg nach Cilaos beginnen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es bald dunkel werden würde, was den schwierigen und äußerst anspruchsvollen Abstieg nach Cilaos zusätzlich erschweren würde.

Wenn ich gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich bis hier her weniger Pause gemacht, wäre schneller gelaufen, dort wo es möglich war, um dann diesen Abstieg noch bei Tag zu schaffen. Der „erfahrene“ Reunion-Läufer Bernhard hatte zwar jede Menge Allgemeinplätze über den Raid von sich gegeben, wie z.B. dass ich ihn unterwegs verfluchen würde, oder dass der Lauf sehr schwer wäre, dass das Zeitlimit kein Problem wäre, dass man sich am Anfang nicht verausgaben solle und allerlei weitere solche Binsenweisheiten. Den wichtigen Hinweis aber, dass der Abstieg nach Cilaos möglichst bei Helligkeit gemacht werden sollte, den hatte er für sich behalten.

Vom folgenden Abstieg habe ich nur ein paar Bilder gemacht, die leider sämtliche alle nichts geworden sind, weil die Kamera bereits defekt war, wie ich später leider feststellen musste. Daher sind hier ein paar Bilder, die Pascal bei seinem Abstieg nach Cilaos gemacht hat. Er war hier etwa sieben Stunden vor uns, die Bilder wurden also zwischen 11.30 und 12.30 Uhr gemacht.

Blick hinunter ... ... nach Cilaos Abstieg ist geschafft
hier kamen wir herunter   Cilaos

18:26 Uhr: Zügig liefen Holm und ich los, Bernhard war kurz vor uns gestartet. Solange es noch hell war, wollten wir soweit wie möglich kommen. Beängstigend steil fiel die Wand ab, die wir ganze 800 Höhenmeter abwärts überwinden mussten. Zum Glück war sie mit Büschen und Bäumen bewachsen, so dass man nie den direkten Blick nach unten hatte.

Anfangs joggten wir, sofern es der Boden zuließ. Aber schon nach wenigen Minuten hatte ich die Quittung: Zack – ich lag auf dem Boden und klammerte mich an die Pflanzen, damit ich nicht rechts den Steilhang abwärts rutschte. Der Schreck hatte mein Herz höher schlagen lassen und ich war ermahnt, vorsichtiger zu sein. Trotzdem trödelten wir nicht, denn wir mussten die Helligkeit ausnutzen. Da, ein Stau vor uns und ein aufgeregter Franzose zeigte den Abhang hinunter. War da doch tatsächlich ein Läufer vom Weg abgerutscht und hinunter gefallen. Etwa vier Meter unterhalb war er aufgehalten worden und hielt sich an einem Baum fest. Bevor die Leute vor uns noch lange nachdenken konnten, wie man ihn wieder nach oben bringen könnte, hatte er das Problem selbst gelöst. Unser Pfad ging steil abwärts, nach wenigen Metern kam eine Spitzkehre und er verlief wieder in Richtung des abgerutschten Läufers. Vorsichtig hatte er sich von Baum zu Baum gehangelt, bis er wieder von alleine da unten auf dem Weg war. Die anderen vor uns, Holm und ich waren weitergelaufen und erreichten ihn jetzt. Er saß auf dem Weg und wollte soeben aufstehen, um weiterlaufen, als er sich mit Schmerz verzerrtem Gesicht wieder setzte. Er zeigte auf sein Knie und erklärte etwas. Ganz offensichtlich war für ihn der Grand Raid hier zu Ende. Da wir nicht helfen konnten, gingen wir weiter abwärts. Vielleicht 15 Minuten später kamen uns zwei Sanitäter im Laufschritt entgegen, die wohl per Handy alarmiert worden waren.

Durch diesen Vorfall wurde ich noch vorsichtiger als zuvor. Steil schlängelte sich jetzt der Pfad in vielen engen Serpentinen abwärts. An jeder Spitzkehre musste man aufpassen, dass man die Kurve kriegte. Stellenweise war es so steil, dass ich nur weiter kam, wenn ich mich auf den Hosenboden setzte, mit dem Füßen nach unten tastete und mit den Armen unterstützte. Zu allem Übel wurde es immer dunkler und wir hatten unsere Lampen noch nicht draußen. So ein Blödsinn, das hätten wir oben an der Verpflegungsstelle machen sollen. Wir mussten also eine passende Ausweichstelle abwarten, wo wir niemanden im Weg waren. Schnell holten wir dann die Lampen heraus.

Die Schnellsten allerdings waren wir nicht, immer wieder wurden wir von Läufern und Läuferinnen überholt, die von oben auf uns aufgelaufen waren und denen wir, immer wenn es ging, Platz machten. Irgendwann liefen wir selber auf eine noch langsamere Gruppe auf. Wenn ich es richtig sah, war da ein älterer Herr und eine ältere Frau dabei, die sich sehr schwer taten. Bei jeder Spitzkehre waren sie übervorsichtig und auch bei größeren Tritten musste man ihnen helfen. Ab und zu war der Hang so steil, dass man den Pfad nicht mehr fortführen konnte. An diesen Stellen waren Eisenleitern im Fels befestigt, die man abwärts klettern musste, bis man wieder auf dem Pfad war. Hier waren die Beidenjeweils noch langsamer.

„Eberhard, mach Platz!“ Sigrid war von hinten auf mich aufgelaufen und wollte vorbei. Eine Weile noch wurde auch sie von der langsamen Gruppe vor uns aufgehalten, bis sie auch da vorbei war. Holm und ich jedoch blieben hinter der langsamen Gruppe. Mir war das nicht unrecht, hatten mich doch mein Sturz und der abgerutschte Läufer zur Vorsicht gemahnt. Dazu kam, dass der Weg bei Nacht, trotz guter Lampe, nicht weit genug eingesehen werden konnte. Ich war von meinen Kräften und der Konzentration maximal gefordert und da gaben mir die Langsamen vor uns einigermaßen Sicherheit.

Viele Läuferinnen und Läufer jedoch machte dieser Abstieg nicht so viel Schwierigkeiten. Immer wieder liefen welche auf uns auf und überholten, sobald der Pfad es zuließ. Einer dieser vielen Läufer wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Der Weg war Mal wieder so schmal und anspruchsvoll und immer wieder kamen auch Leitern, so dass Überholen nicht möglich war. Während ich mich mühselig auf Händen, Füßen und viel Hosenboden nach unten arbeitete, an jeder Kehre ängstlich aufpasste, die Leitern vorsichtig hinabstieg, hatte der Knabe hinter mir keine anderen Sorgen, als ständig Telefonanrufe auf seinem Handy entgegen zu nehmen. Obwohl er jeweils recht wortreich telefonierte, wurde er nicht im geringsten langsamer. Stets saß er mir dicht im Nacken, so dass ich in Sorge war, er würde stolpern, auf mich drauffallen und wir dann zusammen den Hang hinunter. Natürlich war meine Sorge unbegründetund nach etwa dem sechsten Anruf ergab sich eine Gelegenheit zum Überholen und er war vorbei und hatte kurz danach auch die Langsamen vor uns passiert.

Schon mehr als zwei Stunden dauerte der Abstieg, die langsame Gruppe vor uns hatte sich aufgelöst und Holm hatte den älteren Mann überholt und war ein Stück vor mir. Als auch ich den Mann passiert hatte, sah ich beim Zurückschauen, dass er nicht mehr sicher auf den Beinen war. Immer wieder nahm er auch hohe Stufen durch Hinunterspringen, schwankte beim Aufkommen aber jedes Mal entsetzlich. Wenn der so weiter machte, würde er über kurz oder lang stürzen. Ich zeigte ihm, wie ich solche Hindernisse nahm (auf Hosenboden setzen), aber er wollte nicht so recht. Immer wieder nahm er schwierige Passagen ganz unsicher. Ich konnte ihn unmöglich alleine weiter lassen und machte langsam. Er sprach recht ordentlich Englisch, so dass wir uns verständigen konnten. Irgendwann sagte er: „This path is a scandal!“ Er war vor allem entrüstet, weil man im Vorfeld nirgends auf diesen steilen, schwierigen und auch gefährlichen Abstieg aufmerksam gemacht hatte.

Gemeinsam kämpften wir uns abwärts und stellten mit Freude fest, dass es immer wieder mal weniger steil wurde. Bald würden wir unten sein. Aber es dauerte noch weitere lange Minuten, bis die Steilwand endgültig hinter uns lag. Unten erwartete uns Holm. Er war ebenfalls vollkommen entrüstet über diesen Abstieg. So hätte er sich diesen Lauf nicht vorgestellt. Auch ihm hatten die drei Stunden körperliche und geistige Anspannung offensichtlich sehr zugesetzt. Er schimpfte wie ein Rohrspatz. Für ihn war vollkommen klar, dass er in Cilaos aufhören würde. Sogar an seiner Startnummer hatte er schon genestelt und halb abmontiert. Allerdings befestigte er sie auch sofort wieder, als ich ihn bat, sich das doch nochmal zu überlegen. Auf einer breiten, leicht zu laufenden Straße ging es zum Kontrollpunkt. Wir lagen noch gut in der Zeit, so dass man uns hier problemlos weiter ließ.

Holm wollte keinen weiteren Schritt mehr auf schlechten Wegen machen. Er würde nur noch auf einer guten Straße bis Cilaos gehen. Mein Begleiter und ich konnten ihn dann überreden, doch noch mit uns mit zu gehen. Es würde ja jetzt nur noch auf der Straße weiter gehen und auch nicht mehr abwärts, war unser Versprechen.

Zu Dritt liefen wir weiter und kamen bald auf auf eine beleuchtete Straße. Wir waren offensichtlich am Rande einer Ortschaft. Immer wieder waren wir uns über den Weg unsicher, aber ein hilfreicher Mann in einem Auto fuhr uns hinterher und zeigte uns die Abzweigungen. Eigentlich hätte ich schneller laufen können und sollen, ich wollte aber den Franzosen nicht im Stich lassen. Während des Abstiegs hatte ich gegen Ende ans Aussteigen gedacht, weil ich in Sorge war, nicht mehr rechtzeitig nach Cilaos zu kommen. Aber der Gedanke war für mich absurd, je länger wir langsam durch den Ort liefen. Ich fühlte mich insgesamt noch gut, auch wenn mich der Abstieg viel Kraft und mentale Stärke gekostet hatte. Zwar war ich viel später in der Zeit, als es mein Plan vorsah. Es würde sicher eng werden und viel schlafen konnte ich in Cilaos auch nicht, aber Aufhören? Nein!

Auch wenn also der Gedanke auszusteigen kurzzeitig attraktiv war, richtig ernsthaft hatte ich ihn nicht gedacht, er war nur nochmal kurz und ganz zaghaft aufgetaucht, als Holm und auch der ältere Herr sagten, dass sie in Cilaos aufhören würden. Nachdem ich mir aber im Klaren war, dass ich weiter machen würde, wurde mir auch sofort bewusst, dass ich mich beeilen musste. Ich verabschiedete mich von dem Franzosen und marschierte zügig weiter. Holm kam mit.

Leider aber waren die restlichen 2,5 Kilometer bis Cilaos doch nicht so einfach, wie ich es Holm versprochen hatte. Wir verließen bald die Straße mit ihrer Beleuchtung und mussten tatsächlich noch weitere 200 Meter tiefer, dort den Fluss überqueren und dann wieder 180 Meter hinauf. Zu allem Überdruss war sowohl der Abstieg als auch der Aufstieg recht steil, so dass ich schon ein schlechtes Gewissen bekam, Holm überredet zu haben. Im Nachhinein jedoch zeigte die Karte, dass es gar keinen anderen Weg nach Cilaos gegeben hätte.

Fr., 22:43 Uhr, km 67,2, 1.224m – Cilaos

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

In annehmbarer Verfassung kam ich auf dem Sportplatz in Cilaos an. Die Zeit drängte, spätestens um 2 Uhr musste man die Station verlassen. Ich hatte also keine Zeit zu verlieren und überließ Holm sich selbst. Mein hier deponiertes Gepäckstück bekam ich problemlos und auch den Weg zur Verpflegung fand ich. Wieder gab es Hähnchenteile und Reis. Dazu trank ich Cola. Dann tauschte ich mein nasses Hemd gegen ein trockenes aus meinem Gepäckstück und entnahm dort auch weitere Energienahrung.

Als ich wieder heraus kam, saß Holm auf einer Bank. Er hatte hier auf mich gewartet und zeigte mir die Schlafzelte. Ich war ganz überrascht, als er erklärte, dass er ebenfalls weiter gehen würde. Er hatte sich offensichtlich wieder soweit erholt, dass er sich den weiteren Weg zutraute. Vielleicht aber wollte er auch nicht aufgeben, ohne es zumindest mal zu versuchen.

Wir gingen also in eines der Zelte und suchten uns freie Feldbetten. Da ich in meinem Gepäckstück auch meinen Schlafsack deponiert hatte, konnte ich mich warm einhüllen und schlief bald ein. Holm jedoch musste sich in seinen nassen Klamotten hinlegen und fror dann auch, trotz Decke, wie er mir später berichtete. Er hatte sich auf Bernhard verlassen, der ihm gesagt hatte, dass man keine Gepäckstücke deponieren müsse, das sei unnötig.

Nach nicht ganz 1,5 Stunden unruhigen Schlafes stand ich auf, weckte Holm und wir gingen in die warmen Duschräume, um uns für den Abmarsch zu richten. Der Schlafsack war bald verstaut und auch die beiden Zehen, an denen ich schon leichte Schmerzen spürte, versorgte ich noch mit Tape. Blasen waren das Letzte, was ich brauchen konnte. Dann gab ich mein Gepäckstück wieder ab und wir gingen zum Ausgang und meldeten uns um 1:13 Uhr ab.

Übrigens – Bernhard hatte den Abstieg nach Cilaos deutlich schneller hinter sich gebracht und war schon um 22:05 Uhr in Cilaos. Entsprechend startete er von dort auch früher (23:52 Uhr), so dass er etwa 1h20 vor uns lag.

Samstag: Hetzjagd nach Deux Bras

Wir marschierten aus dem Stadion und liefen durch die Stadt. Ich war gespannt, wie es weitergehen würde. Mitten in der Nacht in einer unbekannten Gegend auf unbekannten, miserablen Wegen mit einer Markierung, die in der Nacht überhaupt nichts taugte – das ist schon ein mulmiges Gefühl. Ich war froh, dass Holm dabei war und sich uns noch ein weiterer Läufer angeschlossen hatte.

Kurz etwas zur Orientierung. Tagsüber hatte man eigentlich nie Probleme, den Weg zu finden. In regelmäßigen Abständen hingen rot-weiße Bändel an passenden Gegenständen, wie Büschen, Bäumen, Brückengeländern und ähnlichem. Auch Abzweigungen waren damit gut markiert, sowohl der Abzweig selbst, als auch sofort ein paar Meter weiter. Auch hatten wir bis Cilaos ständig jede Menge Läuferinnen und Läufer vor oder hinter uns, so dass man sich an denen orientieren konnte. In der Nacht jedoch galt das alles nicht mehr. Läufer waren naturgemäß ganz wenige unterwegs. Als wir in Cilaos starteten, waren wir gerade Mal zu viert. Die Bändel waren nicht zu sehen, da nicht selbstleuchtend. Wie anders war das beim UTM86, wo an jedem Bändel ein Reflektorstreifen angebracht war. Da leuchteten die Dinger schon in 200 Meter Entfernung.

Kein Wunder also, dass sich uns der Franzose angeschlossen hatte. Zu dritt verließen wir die Stadt. Erst Mal ging es steil abwärts auf einem ordentlichen Weg, der allerdings Stufen von etwa vierzig Zentimeter Höhe und mehr hatte. Also war wieder springen angesagt. Als wir dann die Zivilisation ganz verlassen hatten, wurde der Weg schlechter, sprich unregelmäßiger. Bald waren wir 300 Meter tiefer (920 m), passierten auf riesigen Steinen ein Flussbett (kaum Wasser) und ab jetzt ging es bergauf, Richtung „Col du Taibit“, dessen Passhöhe auf 2.080 m lag. Ein gewaltiger Anstieg auf den folgenden 10 Kilometern lag vor uns.

Hier ein paar Bilder von Adrian und Pascal. Adrian benötigte von Cilaos bis Marla 2:45 h, Pascal 3:23 h und ich - man glaubt es kaum - benötigte 6:26 h. Was habe ich hier eigentlich gemacht? Geschlafen? Nein, ich versichere, ich bin ununterbrochen gegangen, mit Ausnahme der 20 Minuten an einer Verpflegungsstelle. Es ist unfassbar, wie schnell man laufen kann, wenn man es kann. Gratulation den Beiden!

Start in Cilaos:

Adrian 11:53 Uhr
Pascal 13:25 Uhr
Eberhard 01:13 Uhr

  Adrian: 12:14 Uhr 12:20 Uhr 12:20 Uhr 12:29 Uhr

Ankunft in Marla:

Adrian 14:38 Uhr
Pascal 16:48 Uhr
Eberhard 07:39 Uhr

12:34 Uhr: Flussbett 12:40 Uhr 12:47 Uhr 14:17 Uhr kurz vor Marla  
Pascal: 13:50 Uhr 14:17 Uhr 14:17 Uhr 16:20 Uhr 16:20 Uhr

Glücklicherweise war der Weg nicht so schlecht wie schon erlebt. Meist konnte man gut gehen, nur ab und an, wenn es zu steil wurde, oder eine hohe „Stufe“ zu überwinden war, musste ich meine Hände zu Hilfe nehmen. Aber was wäre der Grand Raid, wenn alles so einfach bliebe. Kaum hatte man Höhe gewonnen, ging es auch schon wieder abwärts. Insgesamt jedoch gewannen wir natürlich an Höhe, so dass wir nach 2,5 Stunden an der nächsten Verpflegungsstelle ankamen.

         

Sa., 3:46 Uhr, 1.260m, km 74,3 - Début sentier du Taibit

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Die Verpflegungsstelle war auf der Straße, die von Cilaos nach Ilet à Cordes führte, aufgebaut. Wie stets trank ich mehrere Becher Nudelsuppe, dazwischen Cola und Wasser. Unser französicher Begleiter sprach ein wenig Englisch und fragte, ob er sich uns anschließen dürfe, er würde nachts mit seiner Lampe zu wenig sehen. Natürlich stimmten wir zu.

Nach etwa zwanzig Minuten Aufenthalt gingen wir weiter. Direkt von der Straße führte ein schmaler Pfad weg. Hatte ich bis zur Verpflegungsstelle noch Bilder gemacht, vergaß ich das ab jetzt vollkommen. Der Weg war weiterhin recht steil, aber recht ordentlich zu gehen. Von Cilaos an war ich immer vorne und gab das Tempo vor. Hinter mir im Dunkel hörte ich immer wieder ein Keuchen. Ich fragte Holm, der direkt hinter mir ging, ob das von ihm oder von unserem Begleiter käme. „Von unserem Begleiter!“ war seine Antwort.

Nach weiteren 1,5 Stunden wurde es immer heller, so dass ich bald meine Lampe ausschalten konnte. Um sie zu verstauen, musste ich kurz Pause machen. Da ich auch noch ein dringendes Bedürfnis verspürte, suchte ich nach einer passenden Gelegenheit. Gar nicht so einfach, wenn alles um einen herum nur steil war, lediglich aus mehr oder weniger großen Steinbrocken bestand und urwaldmäßig überwuchert war. Endlich aber fand ich ein geeignetes Plätzchen.

Unser Begleiter verabschiedete sich, er müsse sich beeilen, das Zeitlimit würde sonst drohen. Das hatte ich ganz anders auf meinem Marschplan, er aber meinte, die nun noch kommenden Streckenabschnitte seien sehr schwer und langwierig, da müsse man sich beeilen. Er marschierte also weiter und ließ mich einigermaßen nachdenklich zurück. Ok, dann würde ich jetzt ebenfalls das Tempo anziehen müssen. Zuerst aber begab ich mich hinter einen großen Felsbrocken.

Als ich abmarschbereit war, erklärte Holm, dass er aufhören wolle. Nun, vermutlich hatte ihn der sehr anstrengende Weg von Cilaos bis hierher überzeugt, dass er wohl nicht mehr die Kraft hätte, den Rest anständig durchzustehen. Vor allem machte ihm zu schaffen, dass er in Cilaos wegen seiner nassen Klamotten kaum hatte schlafen können.

Ich machte also gar nicht erst den Versuch, ihn zu überreden, weiter zu machen, sondern verabschiedete mich und beschleunigte ein wenig mein Tempo. Vielleicht gelang es mir ja, unseren französichen Begleiter einzuholen. Offensichtlich kannte der sich aus und wäre wohl ein idealer Begleiter für den Rest der Strecke. Bald war Holm so weit hinter mir, dass ich ihn nicht mehr sah.

Leider gelang es mir nicht, den ‚Franzosen einzuholen. Als ich mir zuhause seine Daten anschaute, sah ich, dass er an den folgenden Durchgangsstationen seinen Vorsprung ständig ausgebaut hatte und vierzig Kilometer später in Deux Bras schon nahezu drei Stunden vor mir lag. Allerdings hatte er sich dabei vermutlich übernommen, denn in Deux Bras war er aus dem Rennen ausgestiegen.

Von all dem wusste ich jedoch nichts, ich arbeitete mich zügig den Berg hoch und hoffte, dass die Anstrengung bald ein Ende hätte. Immer wieder mal gab eine Lücke im Wald die Sicht frei. Aber es war jedes Mal niederschmetternd: linkerhand in etwa zwei bis drei Kilometer Entfernung war eine nahezu senkrechte, kahle Wand, deren Grat weit über mir lag. Ich hoffte inständig, dass ich dorthin nicht müsse. Der Blick voraus brachte aber auch nicht viel Hoffnung: Wald, nichts als Wald über mir und kein Gipfel oder Grat in Sicht.

Unverdrossen kämpfte ich mich also hoch und vergaß auch hier zu fotografieren, obwohl es jetzt natürlich schon längst hell genug gewesen wäre. Aber die Worte unseres Begleiters, dass das Zeitlimit drohte, hatten mich in Hektik versetzt und ich dachte nur noch an den Gipfel und den Abstieg nach Marla.

Sa., 6:48 Uhr, 2.080m, km 78,3 - Col du Taibit

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Da, endlich, ich hatte es geschafft. Eine weitere Stunde nachdem wir uns verabschiedet hatten, überschritt ich den Pass und sah gleich danach ein Hoffnung bereitendes Schild: „Marla 0H20“. Das war ja ermutigend. Ganz weit im Hinterkopf erinnerte ich mich zwar, dass es auf den zwei Kilometern bis Marla 500 Meter abwärts ging, aber wahrscheinlich waren die zwei Kilometer gut zu laufen.

Das Landesinnere der Insel Reunion bilden drei gewaltige Bergkessel (cirque), die sich wie ein Kleeblatt um den höchsten Berg der Insel, den Piton des Neiges ( 3.070 m), gruppieren: der Cirque de Cilaos im Süden, der Cirque des Mafate im Nordwesten und der Cirque de Salazie im Nordosten. Diese drei Kessel sind bei weitem nicht eben, wie das Wort Kessel (Cirque) vielleicht suggeriert. Ein bizarres System aus Kegelbergen, Schluchten, Plateaus und Steilwänden findet sich in jedem der drei Cirques. Teilweise sind die Berge über 2.000 Meter hoch, wie ich bereits im Cirque de Cilaos erfahren musste. Der Bergrücken, dessen Spitze der Col du Taibit bildet und den ich jetzt erreicht hatte, trennt den Cirque des Cilaos vom Cirque des Mafates, in den nun absteigen musste.

Frohgemut machte ich mich auf den Weg und sah auch bald, dank fehlender Bewaldung des Hanges, weit unter mir Häuser. Donnerwetter, so weit musste ich hinunter? Der Weg schlängelte sich in Serpentinen abwärts, war zwar steil, aber nicht schlecht, man konnte ihn gut gehen, kein Vergleich mit dem Abstieg nach Cilaos. Auch war er vor kurzem wohl frisch gerichtet worden. Immer wenn es zu steil wurde, waren Stufen angelegt worden: Ein dickes Brett mit Holzpfählen im Boden befestigt und dahinter mit Schotter aufgefüllt. Wenn die Stufen nur nicht so hoch gewesen wären. So aber kosteten sie viel Kraft und richtig springen konnte ich nicht, da wären meine Oberschenkel nach kurzer Zeit ruiniert gewesen. Also passte ich meine Geschwindigkeit an, war aber sicher schneller als ein durchschnittlicher Wanderer und brauchte trotzdem geschlagene 1H10, bis ich an der Verpflegungsstelle in Marla ankam. Die angegebenen 20 Minuten konnte vielleicht ein Rennläufer schaffen, wenn er sich kamikazeartig abwärts stürzte, nicht aber ein durchschnittlicher Mensch wie ich.

Sa., 7:39 Uhr, 1.580m, km 80,5 - Marla

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Um 9 Uhr endete hier das Zeitlimit, also hatte ich genügend Zeit, mich ein wenig auszuruhen. Zuerst aber aß ich ausgiebig. Wie üblich mehrere Becher Nudelsuppe, dann zwei Hähnchenteile mit Reis, viel Cola und auch wieder Rosinen. Anschließend legte ich mich in den Schatten auf die Wiese, zog meine Schuhe aus und döste etwa 10 Minuten vor mich hin.

Als ich mich wieder aufraffte tauschte ich noch die elenden Einlagen in den Schuhen gegen die normalen Einlegesohlen. Bereits das dankten mir meine teuflisch schmerzenden Fußsohlen. Bis ins Ziel wechselte ich nicht mehr und tatsächlich ließen die Schmerzen immer mehr nach.

Nach fünfzig Minuten Aufenthalt verließ ich die Station. Laut Höhendiagramm würde man auf den nächsten acht Kilometern bis Roche Plate noch etwa 500 m Höhe verlieren. Das war bei weitem nicht mehr so steil wie der letzte Abstieg und ich war also guten Mutes, dass ich nun besser, sprich schneller vorwärts kommen würde. Da aber hatte ich nicht eingerechnet, dass wir ja auf Reunion liefen.

Die ersten wenigen hundert Meter verliefen noch moderat, dann aber ging es tatsächlich abwärts und wie. Keinerlei Pflanzen in dem Tal, das ich da hinunter laufen musste. Es ging steil oder sehr steil abwärts, aber auf welchem Untergrund! Man stelle sich einen Riesen vor, der aus lauter Übermut Kieselsteine in das Tal gestreut hat. Für uns normale Menschen waren das dann riesige Steine. Bernhard prägte dafür den Begriff des „Großkiesel“, wobei groß von vierzig Zentimeter bis mehrere Meter variierte. Natürlich war hier kein Riese am Werk gewesen, sondern Wasser, das während der Regenzeit hier herunterschießt und sich im Laufe der vielen Jahrzehntausende eingegraben und das Bröckelmaterial freigelegt und zu Kieseln abgeschliffen hat.

Gleich zu Beginn hatte ich eine Familie mit zwei Kindern und einem Hund überholt, die hier wanderten. Die Kinder wollten mir zeigen, dass auch sie nicht schlecht zu Fuß waren und nahmen sofort mein Tempo auf. Ich bemühte mich und wollte meinerseits zeigen, dass ein Grand Raid Teilnehmer was drauf hat. Also joggte ich und da es recht steil war, sprang ich von Stein zu Stein abwärts. Recht anstrengend, denn die „Stufen“, die die Steine bildeten, waren erstens recht unregelmäßig und vor allem sehr hoch, zumindest vierzig oder mehr Zentimeter. Nachdem mich der Hund und der Junge überholt hatten, natürlich machte ich Platz, blieb der Junge stehen, um auf die Schwester zu warten. Ich passierte ihn also wieder. Aber er gab keine Ruhe, jetzt kamen sie zu Dritt hinter mir her. Wieder ließ ich sie vorbei.

Glücklicherweise warteten sie hier, um auf ihre Eltern zu warten. Ich passierte wieder und ließ die Familie dann für immer hinter mir, konnte also ein wenig langsamer tun und mit weniger Kraftaufwand den Weg nach unten machen.

Nach vielleicht fünfzig Minuten war ich unten, links von mir ein Flüsslein, das im Laufe der nächsten Monate sicher zum reißenden Fluss wird. Auf einem „Weg“ stets oberhalb des Flussbettes lief ich dem Tal entlang, sprang meist von Riesenkiesel zu Riesenkiesel und verlief mich tatsächlich einmal bis hinunter zum Wasser. Ein paar Läufer, die mich oberhalb passierten, machten mich auf meinen Irrtum aufmerksam und ich ging wieder hoch.

Start in Marla:

Adrian 14:38 Uhr
Pascal 16:48 Uhr
Eberhard 08:27 Uhr

  Adrian: kurz hinter Marla
14:45 Uhr
15:08 Uhr 15:10 Uhr 15:20 Uhr

Sa., 9:52 Uhr, 1.220m, km 83,5 - Trois Roches

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Diese Kontrollstelle lag beinahe idyllisch am Flussbett. Die Betreuer hatten sich mit einem der allseits bekannten Laubenzelte vor der jetzt sehr aggresiven Sonne geschützt. Ich trank Cola, füllte meinen Wasservorrat auf und lief dann weiter. Zuerst musste man den Fluss überqueren. Zur Sicherheit war ein Seil bis ans andere Ufer gespannt. Der Fluss aber führte so wenig Wasser, dass es keine große Mühe machte, von Stein zu Stein hüpfend, das andere Ufer zu erreichen.

Ein paar Minuten wartete ich noch, bis die nächsten Läufer kamen, die ich bei der Überquerung fotografierte. Wie nach einer Flussüberquerung nicht anders zu erwarten, ging es aufwärts und zwar anhaltend. Von Weg dabei zu sprechen, wäre gelogen. Man stieg von Großkiesel zu Großkiesel aufwärts, stets die Hände mitbenutzend. Zwar war dieser Hang wieder bewachsen, die Büsche und Pflanzen waren jedoch zu niedrig, um Schatten zu bieten. Die Sonne konnte also ein Übriges tun, um die Sache zu erschweren. Fluchend arbeitete ich mich von Stein zu Stein aufwärts, wo es laut Höhendiagramm hätte ausschließlich abwärts gehen sollen. Wenig ermutigend war auch, dass ich immer wieder von Läufern oder Läuferinnen überholt wurde. So langsam war ich doch auch nicht!

War man dann endlich oben, konnte man etwas tiefer den Pfad sehen, wie er sich den Berg entlang schlängelte, bis er sich weiter vorne hinter einer Biegung verlor. Garantiert, 100%ig, ohne Zweifel, jede Wette, dahinter ging es wieder aufwärts! Zuerst aber musste man abwärts von Stein zu Stein hüpfen, bis man auf dem Pfad war, den man zehn Minuten zuvor gesehen hatte. Dann, als man dann an der Biegung angelangt war bestätigte sich die Befürchtung – es ging wieder hoch.

Jede Plagerei aber hat Mal ein Ende, so auch hier. Nach etwa einer Stunde hatte ich mich auf diese anstrengede Weise 150 Meter hoch gearbeitet, als es tatsächlich nur noch abwärts ging. Wie aber nicht anders zu erwarten, war das kein anständiger Pfad, sondern weiterhin dominierten die Steine. Allerdings verteilten sich die 200 Höhenmeter abwärts einigermaßen gleichmäßig auf die restlichen 2,5 Kilometer, so dass hier die ideale Trainingsstrecke war, das Springen von Stein zu Stein zu üben und zu perfektionieren. Tatsächlich gelang es mir immer besser und ich holte einige Leute wieder ein, die mich beim Anstieg überholt hatten. In Gedanken klopfte ich mir auf die Schulter, wie gut ich auf den Steinen vorwärts kam und vor allem, wie gut ich noch drauf war.

Kurz vor Roche Plate dann sah ich Sigrid vor mir. In Cilaos war sie drei Stunden vor mir aufgebrochen und jetzt hatte ich sie eingeholt. Aber was sah ich da? Sigrid ohne Rucksack und mit Stöcken! Wie sie mir später erzählte, hatte sie auf dem letzten Abschnitt jemand gefunden, der ihr für ein paar Kilometer die Stöcke auslieh. Ihr Fuß, der schon in den vergangenen Wochen manche geplante Teilnahme an Rennen verhinderte, machte ihr schon den ganzen Lauf über ziemlich zu schaffen und dieses Wegstück mit Stöcken und ohne Rucksack waren eine Wohltat für sie.

Trois Roches 9:57 Uhr 10:05 Uhr 10:46 Uhr 10:48 Uhr
11:03 Uhr 12:11 Uhr 12:24 Uhr 12:28 Uhr

Sa., 12.13 Uhr, 1.095m, km 88,8 – Roche Plate

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Die vergangenen fünf Kilometer waren sehr anstrengend, erst das ständige Auf und Ab und dann das Springen von Stein zu Stein. Ich setzte mich also sofort auf einen freien Stuhl. Nach ein paar Minuten Erholung holte ich mir eine Nudelsuppe, nochmals eine, Cola, Nudelsuppe und jedes Mal erhob ich mich ächzend vom Stuhl. Sigrid war irgendwo im Gebäude verschwunden und ruhte sich dort aus.

Nach 35 Minuten Pause ging ich weiter, kurz hinter mir Sigrid. Fünf Kilometer waren es zur nächsten Verpflegungs- und Kontrollstation und sie waren genauso anstrengend wie die vergangenen fünf. Zuerst ging es 200 Meter hoch (1,6km), dann 390 m runter (3,1 km) und zuletzt wieder 100 Meter hoch (0,3 km). All das auf den bekannt schlechten Wegen, die auf den 3,1 km abwärts vorwiegend aus Großkieseln bestanden.

Ich konnte zwar meine neue Technik des Springens von Stein zu Stein gut anwenden, aber es war sehr anstrengend. Je tiefer ich kam, desto enger wurde das Tal. Immer wieder lief man ganz nahe am oder über dem Wasser des Flusses. Sigrid blieb ein wenig zurück, aber Burkhard und Andrea, zwei Deutsche, die ich unterwegs kennen gelernt hatte, liefen zu mir auf. Burkhard hatte sich in Roche Plate den Blutdruck messen lassen und weil er zu hoch war, hatte er eine Tablette nehmen müssen. Aber irgendwie war ihm das nicht bekommen, es schien so, dass sein Blutdruck jetzt zu niedrig war. Eine Zeit lang liefen wir gemeinsam. Erst als wir über dem Fluss waren und den Aufstieg begannen, fiel er ein wenig zurück. Oben auf dem Plateau schlossen die Beiden wieder auf und wir kamen gemeinsam an der Station an.

Roche Plate :

Adrian 16:24 Uhr
Pascal 18:51 Uhr
Eberhard
an 12:13 Uhr
ab 12:47 Uhr

aa
So sieht die Gegend bei
Roche Plate aus; fotogra-
fiert von Adrian am Vortag:
Sigrid noch hinter mir Großkiesel
 
  immer noch abwärts Adrian unten
am Fluss (17:52 Uhr)
Andrea und Burkhard
hoch nach Orangers

Sa., 14.40 Uhr, 1.000m, km 93,7 - Ecole des Orangers

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Inzwischen war ich mehr als 37 Stunden unterwegs, davon hatte ich eine gute Stunde geschlafen und vor dem Lauf war ich auch schon fünfzehn Stunden lang auf den Beinen gewesen. Die letzten fünf Stunden waren extrem anstrengend und meine Müdigkeit wurde mir richtig bewusst. Als ich unter einem Vordach ein Feldbett im Schatten stehen sah, war mir klar, dass ich mich hier ein wenig hinlegen und vielleicht eine halbe Stunde schlafen würde. Schnell aß und trank ich etwas und schon lag ich auf dem Feldbett, die Schuhe hatte ich ausgezogen, den Rucksack benützte ich als Unterlage für den Kopf. Dann nahm ich meinen Plan aus der Tasche und schaute nach, wie viel Zeit ich hier wohl hatte. Sofort war ich hellwach – 15 Uhr war hier Zeitlimit und die nächste Station in 3,5 km Entfernung musste um 16 Uhr erreicht sein. Es war jetzt kurz vor 15 Uhr, also eine Stunde Zeit, das würde extrem eng werden, obwohl es bis dahin nur abwärts ging. Was hieß aber schon abwärts beim Grand Raid: Gemeinheiten, schlechter Weg, Auf und Ab und alle sonstigen Niederträchtigkeiten, die man sich nur vorstellen kann!!

Ich stand also wie elektrisiert auf, zog meine Schuhe wieder an und ging zu Sigrid, die gemütlich an einem Tisch saß: „Eberhard, setzte Dich her und esse etwas.“ Offensichtlich hatte Sigrid den Ernst der Lage noch nicht erkannt. Ich wies sie auf das enge Zeitlimit hin und sagte ihr, dass ich jetzt sofort aufbrechen würde.

Wenige Minuten vor 15 Uhr ging ich los. Man verließ das Plateau, hinunter in ein tief eingeschnittenes Tal. Zuerst ging es eine Art Steintreppe viele hundert Stufen abwärts. Ganz, ganz tief unten auf dem Talgrund sah ich einen Fluss. Immer wieder schaute ich zurück, ob nicht Sigrid, Burkhard und Andrea kämen – nichts! Nachdem die anstrengenden Stufen überwunden waren, lief man tatsächlich auf einem Weg, den man als solchen auch bezeichnen könnte. Nicht sehr komfortabel, aber doch viel besser als zuletzt. Auch ging es tatsächlich nur abwärts. Ich konnte also stellenweise recht flott den Weg, der sich dem kahlen Hang entlang abwärts wand, joggen.

Irgendwann traf ich auf einen Mann, der an der Strecke stand. „Combien des minutes?“ Zu mehr reichte mein Französisch nicht. „Vingt minutes“, war die Antwort. Gut, noch zwanzig Minuten, das könnte reichen. Erfreut lief ich weiter. Ganz weit unten sah ich stets den Fluss. Mir war klar, dass ich da nicht hinunter musste, das wären ja deutlich mehr als zwanzig Minuten. Ich erwartete also hinter jeder Biegung die Kontrollstation. Aber sie kam nicht, der Weg wurde enger, teilweise fiel es links steil ab und war daher immer wieder durch ein fragwürdiges Geländer abgesichert.

Nachdem die versprochenen 20 Minuten längst vorbei waren und ich einiges tiefer war, dämmerte mir langsam, dass ich tatsächlich ganz da runter musste. Eigentlich aber war das Zeitlimit bereits überschritten, 16 Uhr war vorbei. Trotzdem rannte ich weiter, verzweifelt und auch hoffnungsvoll. Vielleicht drückten sie ein Auge zu? Ein Läufer hatte mich überholt, ich wusste also, dass ich richtig war, also hinterher. Lange Minuten dauerte es noch, bis ich unten am Fluss ankam. Auf den letzten Metern sah ich wie ein paar Frauen die rot-weißen Bänder, die den Weg zu einer Brücke wiesen, abmontierten. Oh, je! Sie schauten auf die Uhr und dann mich fragend an. Ich tat so, als ob mich das nichts anginge und rannte weiter zur Brücke. Was sollte ich auch mit denen reden, ich konnte mich ja sowieso nicht verständigen.

Eigentlich hätte hier eine Kontrollstelle sein müssen, die man um 16 Uhr passiert haben sollte. Als ich hier unten ankam, war da keine Kontrolle. Ob die noch nie da war, oder ob sie schon aufgelöst war und die Frauen die letzten Reste beseitigten, all das weiß ich nicht. Die nächste Kontrollstation 300 m höher musste um 16.45 erreicht sein.

Am Ende der Brücke saß der Läufer, der mich überholt hatte, auf dem Boden. Ich lief auf ihn zu und streckte den Daumen fragend in die Luft. Er schüttelte resigniert den Kopf, nickte aber auch. Das bedeutete wohl, dass für ihn der Lauf hier zu Ende war, dass es aber noch eine Chance geben könnte, nur sei er zu erschöpft dazu, weiter zu laufen. Ich fühlte mich noch gut und lief also mitleidig an dem erschöpften Kollegen vorbei.

Sofort ging es aufwärts, ein ordentlicher Pfad schlängelte sich den Berghang hoch, aber sehr steil und stellenweise musste man auch mit den Händen nachhelfen, um die teils großen Stufen zu überwinden. Fünf Minuten um fünf Minuten vergingen, keine Kontrollstelle kam und die Zeit lief mir davon. Teilweise rannte ich jetzt sogar nahe an meiner anaeroben Grenze. Ich schloss zu einem Läufer auf, reduzierte mein Tempo ein paar Minuten lang, um mich zu erholen, passierte ihn dann und hetzte weiter.

Es konnte doch nicht sein, dass man mich hier aus dem Rennen nahm, ich war doch noch gut drauf! Warum hatte ich in Marla nicht genauer auf meinen Plan geschaut und die Zeitlimits besser beachtet? Konnte ich das Tempo weiter halten? Wann kommt denn endlich die elende Kontrollstelle? Die haben sicher die Zeit verlängert?! All das ging mir durch den Kopf und ich war einigermaßen verzweifelt, hoffte aber auch.

Es war bereits nach 16.45 Uhr, als es endlich flach wurde. In einigen hundert Meter Entfernung sah ich ein paar Häuser. Ich schöpfte Hoffnung, obwohl das Zeitlimit jetzt bereits weit überschritten war. Kurz danach lief ich an ein paar Leuten vorbei, u.a. auch einem Gendarmen. Ich schaute sie fragend an, wohin ich jetzt wohl laufen müsse. Sie deuteten auf einen Pfad, der links weg und hoch ging und meinten noch, dass ich aber in 15 Minuten da sein müsse. Verflucht, die Häuser waren gar nicht das Ziel, es ging noch weiter aufwärts.

Kurz zuvor hatte ich eine Läuferin (Stephanie) überholt, die während meiner kurzen Unterhaltung mit der Gruppe aufgeschlossen hatte. Gemeinsam rannten wir den Pfad hoch. Bereits nach wenigen Minuten aber ließen ihre Kräfte nach. Ich wollte nicht alleine weiter laufen, sie, als Französin, konnte doch an der Kontrollstelle viel besser argumentieren, warum man bei uns das Zeitlimit nicht so ernst nehmen dürfe. Also nahm ich ihre Hand und zog sie mit. Gemeinsam liefen wir so den Weg hoch, der hier glücklicherweise breit genug war und auch gut zu gehen. Nach einiger Zeit musste ich meine Hilfe abbrechen, weil sonst ich noch Probleme bekommen hätte. Sie hatte sich so weit erholt, dass sie mit meinem etwas langsamern Tempo mitkam.

Nach wenigen Minuten erreichten wir ihre Freundin (Jacqueline) und überholten sie. Zu dritt hatten wir bessere Argumente, also schob ich die Freundin ein wenig, ließ dann aber auch bald nach, weil sonst ich wieder zurück geblieben wäre. Ganz langsam vergrößerte sich dann der Abstand zu ihr. Obwohl auch die genannten 15 Minuten schon längst überschritten waren, hatte ich immer noch die Hoffnung, gewertet zu werden.

Sa., 17:30 Uhr, 650m, 98,6 km - Ecole Grand Place les Bas

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Endlich, die Kontrollstelle tauchte auf. Gemeinsam mit Stephanie lief ich 45 Minuten nach dem offiziellen Zeitlimit ein. „Ihr seid die Letzten, die wir durchlassen!“ Ich wies noch auf die Freundin hin, die in einer Minute kommen würde, aber der Mann winkte ab. Letztendlich jedoch wurde nicht nur Jacqueline durchgelassen, sondern auch noch der Franzose, den ich beim Aufstieg überholt hatte und auch sein Freund, den ich auf der Brücke überholt habe.

Ich war richtig erschöpft und musste mich auf einen Stuhl setzen. Stephanie organisierte Batterien für ihre Stirnlampe, Jacqueline traf eine Bekannte unter den Helferinnen hier am Verpflegungsstand und die beiden Franzosen richteten sich für den Aufbruch. Stephanie konnte ganz gut Englisch, so dass ich über sie fragen konnte, ob wir denn eine realistische Chance hätten, den nächsten Kontrollpunkt, Aurère, in der Zeit zu erreichen. Das wurde bejaht, aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass dort aber das Zeitlimit (19.30 Uhr) unbedingt einzuhalten sei, ansonsten wäre dort das Rennen für uns zu Ende.

Nach nicht mal 15 Minuten Pause ging es weiter. Wir hatten uns als Gruppe zusammengeschlossen, die beiden Franzosen, Stephanie, Jacqueline und ich. So wie es aussah, kannten sich die beiden Franzosen in der Gegend aus. Wir hatten 10 km bis Aurére, theoretisch, laut Höhendiagramm, ging es erst Mal 300 Meter hoch und dann verlief die Strecke etwa auf gleicher Höhe, allerdings ging es mehrmals 120 Meter runter und wieder hoch, war also anspruchsvoll und wir hatten dafür weniger als zwei Stunden Zeit. Die beiden Franzosen meinten, dass es in dieser Zeit kaum zu schaffen sei.

Trotzdem joggten wir los, versuchen musste man es auf jeden Fall und vielleicht waren die in Aurére nicht ganz so streng. Da es sofort anstieg gingen wir in einen schnellen Wanderschritt über. Von Anfang an bemerkte ich, dass Jacqueline das Tempo nicht mithalten konnte. Ich übernahm ihren Rucksack und hängte ihn mir vorne an die Brust. Der Weg war gut zu gehen, keine Gemeinheiten, nur dass es eben ständig aufwärts ging. Etwa zehn Minuten lang trug ich ihren Rucksack, ich kam erstaunlich gut damit zurecht. Selbst an den Stellen, an denen man joggen konnte, ging es gut. Ich kam dabei aber ordentlich ins Schwitzen und gab dann gerne den Rucksack wieder ab. Sie hatte sich gut erholt, wir hatten zu den anderen aufgeschlossen und blieben auch zusammen.

Der Weg war immer noch gut, verglichen mit den bisher angetroffenen Bedingungen, es war nicht so arg steil und wir kamen ganz flott voran. Nach etwa einer halben Stunde bemerkte ich, dass Jacqueline wieder nachließ. Durch Zuruf an die anderen und Dolmetschen durch Stephanie konnte man meinen Vorschlag verwirklichen, einen Teil des Inhaltes des Rucksacks von Jacqueline auf uns andere zu verteilen. Stephanie, einer der Franzosen und ich übernahmen je einen Teil und fortan hatte sie keine Mühe mehr, uns zu folgen.

Wir waren jetzt eine Stunde unterwegs und es wurde Zeit, die Stirnlampen einzusetzen. Nach kurzem Aufenthalt ging es weiter. In einem Waldstück dann trafen wir auf einen Franzosen, der mit einem Handy am Baum lehnte und telefonierte. Ob es ein Läufer oder Wanderer war, kann ich nicht sagen, von der kurzen Unterhaltung der Anderen mit ihm habe ich überhaupt nichts mitbekommen. Ich bemerkte nur, dass Stephanie neben ihm ihren Rucksack abgenommen hatte und darin stöberte. Wir vier liefen weiter. Mehrmals schaute ich zurück, Stephanie tauchte nicht mehr auf. Ob sie Probleme mit ihrer Stirnlampe hatte?

Zu diesem Zeitpunkt war ich aber nur noch an meinem Fortkommen interessiert und lief daher weiter in unserer Gruppe mit. Ein schlechtes Gewissen allerdings hatte ich, denn immerhin war da eine Frau ganz alleine im dunklen Wald, in einer unbekannten Gegend und ihre Stirnlampe funktionierte eventuell nicht? Vielleicht aber konnte sie sich mit dem telefonierenden Franzosen zusammentun?

Irgendwann kam einer der beiden Franzosen zu mir zurück. Er sprach ein wenig Englisch und fragte, ob ich die Gegend kennen würde. Jetzt käme bald ein gefährlicher Abstieg und ich müsse sehr aufpassen, weil man hier leicht abstürzen könne. Keine schöne Aussicht, ich stellte mir schon wieder einen Abstieg wie vor Cilaos vor. Glücklicherweise war es dann aber halb so schlimm. An den gefährlichsten Stellen war jeweils ein Stahlseil verankert, das man als Handlauf benutzen konnte und so war nach 15 Minuten alles überstanden. Wir waren 120 Meter tiefer und mussten wieder hoch. Ich war aber immer noch erstaunlich fit. Jegliche Müdigkeit von heute Mittag war wie weggewischt. Allerdings waren wir bereits zwei Stunden unterwegs, das Zeitlimit war schon wieder überschritten. Glücklicherweise wurde es eben, der Weg breit und es konnte nicht mehr lange dauern, bis wir da waren.

Sa., 20:00 Uhr, 750 m, km 108,3 - Aurére

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Obwohl wir also auch in Aurére eine halbe Stunde zu spät dran waren, wurden wir noch gewertet. Wieder würde es arg eng werden, rechtzeitig vor 22 Uhr an der nächsten Kontrollstelle in Deux Bras anzukommen. Wir machten hier in trotzdem 20 Minuten Pause und wurden dabei fürsorglichst bedient. Alles brachte man mir meinen Stuhl, Nudelsuppe, Cola und als ich nach einem Cola zum Mitnehmen fragte, war das überhaupt kein Problem.

Meine beiden Franzosen
in Aurére

Jacqueline vertrödelte ihre Zeit mit Gesprächen an der Kontrollstelle und machte überhaupt keinerlei Anstalten, weiter gehen zu wollen. Das kümmerte mich jetzt aber nicht mehr, ich gab ihr die Sachen zurück, die ich für sie im Rucksack getragen hatte und verabschiedete mich. Wir, die beiden Franzosen und ich, würden ohne sie losgehen. Gerade als wir die Station verlassen wollten, kam Stephanie an. Sie sagte noch etwas von „helfen müssen“ und dann waren wir unterwegs. Die beiden Frauen würden wohl hier aufgeben müssen.

Zuerst ging es eben, oder leicht aufwärts, meist gut zu gehen, nur die vielen Frösche oder Kröten, die zuhauf auf dem Weg waren, störten. Nach etwa zwanzig Minuten dann wurde der Weg schlechter und bald sah er aus, wie ein Bachbett, etwa drei Meter breit, ausschließlich Großkiesel und es ging abwärts. Kein Problem, das Hüpfen von Stein zu Stein hatte ich heute bereits ausgiebig trainiert und so hetzten wir das Bachbett hinunter. Mir wurde dabei warm, ich schwitzte und damit fingen meine Probleme an.

Der Schweiß tropfte auf meine Brille und in der Nacht mit Lampe bedeutet das, dass ich nur noch verschwommen sah. Beste Sicht war aber absolut notwendig, um diese Hüpferei von Stein zu Stein ohne Sturz zu überleben. Also war ich ständig dabei, mit meinem Lappen die Nässe von meiner Stirn zu wischen. Dazu musste ich aber die Brille jeweils kurz abnehmen. Ich peilte also einen paar Steine an, fixierte sie, nahm die Brille ab, wischte den Schweiß von Stirn und aus den Augen, hüpfte derweil auf auf die fixierten Steine hinunter und setzte die Brille wieder auf. Zu allem Überfluss begann jetzt auch noch meine Brille zu beschlagen. Ich dampfte förmlich und es kam nicht genügend frische Luft zwischen Brille und Gesicht. Also fingerte ich während des Laufens noch mein Klopapier heraus, nahm zwei Blätter und wischte damit die Brille ab. Jetzt hieß es also alle etwa 30 Sekunden: Brille abnehmen, mit dem Lappen in der rechten Hand Stirn und Augen wischen, dann das Klopapier von der linken in die rechte Hand nehmen, Brille trocken wischen und wieder aufsetzen und währenddessen weiter von Stein zu Stein hüpfen. Natürlich wurde ich dabei langsamer und kam den Beiden kaum hinterher.

Unterwegs trafen wir einen Läufer, der am „Bachrand“ saß. Seine Lampe war ausgefallen und er fragte nach einer Ersatzbirne oder Ersatzbatterien. Ich hatte weder das Eine, noch das Andere und auch meine beiden Begleiter konnten ihm nicht helfen. Er lief trotzdem mit uns die Geröllhalde hinunter. Das konnte nicht gut gehen, ich sah ja gerade Mal genug mit meinem Lichtkegel, wie wollte da jemand hinter mir die richtige Auftrittstelle auf dem nächsten Stein weiter unten finden. Nach ein paar Minuten fiel mir dann ein, dass ich ja eine Ersatzlampe hatte. Die bot ich ihm an. Ein kurzer Aufenthalt nur und ich hatte die Lampe im Rucksack gefunden. Damit konnte er jetzt problemlos mit uns mithalten und mich sogar überholen.

Die „Manipulationen“ an meiner Brille hielten mich immer mehr auf und meine drei Begleiter liefen mir langsam davon. Sie bemerkten das und fragten, was ich für ein Problem hätte. Ich deutete auf meine Stirn und meine Brille. Sofort deutete einer der beiden an, dass er Abhilfe wisse. Wir blieben stehen und er nestelte seine Sonnenbrille aus seinem Rucksack. An deren Bügeln war ein Bändel befestigt, mit dem man sich die Brille um den Hals hängen konnte. Er machte den Bändel ab und befestigte ihn an meiner Brille. Mir war klar, dass das nichts nützen würde; er hatte wohl mein Problem nicht verstanden. Bevor ich jetzt aber viel radebrechte, ließ ich ihn gewähren.

Zügig liefen wir weiter, aber der elende Bändel behinderte mich jetzt zusätzlich, denn ich konnte die Brille nur noch mit Mühe abnehmen. Da, weiter vorne, die schwarze, finstere Gestalt? Das war ja Bernhard! Im Sauseschritt zischten wir vorbei: „Bernhard, was machst Du hier?“ machte ich mich von hinten bemerkbar. „Eberhard! Du bist noch im Rennen?“ fragte er erstaunt. Da hatte mich der Kerl offensichtlich bereits abgeschrieben. „Warum rennst Du wie ein Narr?“. Ich war schon vorbei und antwortete nur, dass mir das Zeitlimit arg im Nacken säße und schon war Bernhard weit zurück.

Noch vielleicht zehn Minuten konnte ich einigermaßen mithalten, das Beschlagen der Brille ließ nicht nach und zu allem Übel hatte ich jetzt nur noch zwei Klopapierblättchen. Die brauchte ich aber dringend, um jeweils die beschlagenen Gläser zu trocknen. Ich musste also zwangsläufig langsam machen und bald waren die Drei außer Sichtweite. Ich lief langsamer, wischte Stirn und Brille jeweils im Stehen und hoffte, dass Bernhard bald aufschloss. Immer wieder rief ich laut nach oben, keine Reaktion, er war viel zu weit hinter mir.

Ich kam nun deutlich langsamer voran, musste dafür nicht mehr halb blind laufen. Hoffentlich würde die Zeit reichen! Um 22 Uhr war Schlusszeit in Deux Bras und ich hatte vielleicht noch eine halbe Stunde Zeit.

Wer Probleme hat, bekommt meistens weitere dazu, so auch ich. Wieder Mal hatte ich laut nach Bernhard gerufen. Vor mir war ein Läufer, der sich jetzt umdrehte. Er sprach mich an und bedeutete mir, dass ich warten solle. Wie sich dann herausstellte, hatten ihn "meine" beiden Franzosen informiert, dass nachfolgen würde und ihm aufgetragen, mir etwas auszurichten. Er konnte nur französisch, wenige Wörter englisch und ich verstand nichts. Da deutete er, ich solle sie anrufen. Ich wusste nicht, was ich mit denen reden sollte, denn auch sie sprachen kaum englisch. All all das wäre weiter kein Problem gewesen, ich kam auch ohne Telefonanruf vollends alleine nach Deux Bras. Aber der Kerl wollte mir unbedingt helfen. Ich meinte immer „No problem“ und er ließ mich einfach nicht weiter.

Wieder erklärte ich ihm auf englisch, dass alles kein Problem wäre, ich würde die Beiden ja in etwa 20 Minuten in Deux Bras treffen. Der Knabe ließ nicht locker, holte sein Handy heraus und begann zu telefonieren. Ich saß auf einem Stein, war am Verzweifeln, weil mir die Zeit davon lief und der telefonierte wegen einer Information, die ich überhaupt nicht wollte. Während der „freundliche“ Helfer also telefonierte und ich wie auf Nadeln saß, kam Bernhard. Schon von Weitem fragte er, ob etwas passiert sei. „Nein, kein Problem, alles in Ordnung“ antwortete ich. Er glaubte mir nicht, fragte wieder nach, ich verneinte wieder. Da kam also der nächste „Samariter“, der die Sache noch weiter komplizieren wollte. Ich bat ihn, weiter zu laufen, es sei alles in Ordnung. Er aber sah mich sitzen, den Läufer telefonieren und ließ nicht nach, dass irgendwas nicht in Ordnung sei. Ich konnte ihm unmöglich all meine Erlebnisse und die entstandenen Probleme schildern und bat ihn beinahe schreiend, er möge vorbeilaufen, es wäre nichts. Bernhard wiederum wurde ärgerlich und meinte, dass ich so nicht mit ihm umgehen könne. Ich wiederholte nur, dass er verschwinden solle und beleidigt trollte er sich endlich.

In der Zwischenzeit hatte der Läufer wohl einen der beiden Franzosen am Telefon gehabt. Sie richteten mir aus, dass sie in Deux Bras seien, dass sie bald wieder abmarschieren würden und dass ich mich beeilen solle, man hätte das Zeitlimit um eine halbe Stunde auf 22.30 Uhr verlängert.

Endlich durfte ich weiter. Die ganze Helferei hatte meine Nerven und auch mindestens 12 Minuten gekostet. Allerdings war ich nun abgekühlt und die nächsten Minuten konnte ich ohne weitere Aktionen an meiner Brille laufen. Das änderte sich zwar nach vielleicht fünf Minuten wieder, aber der Weg wurde weniger steil und bald war ich unten in einem Flusstal. Kurz zuvor hatte ich wieder Bernhard überholt. Wieder fragte er, warum ich so hektisch wäre. „Das Zeitlimit, wir müssen um 22.30 Uhr in Deux Bras sein!“ „Blödsinn, wir müssen um 2 Uhr in Deux Bras sein!“ Im Vorbeilaufen rief ich ihm noch zu, dass er da etwas verwechsle, dass wir nicht um 2 Uhr dort sein müssten, sondern sie um diese Zeit verlassen. Er aber rief mir nach, dass ich wieder Mal im Unrecht sei. Was sollte ich machen? Diskutieren mit Bernhard hat noch nie etwas gebracht. Also rief ich ihm noch zu, dass er die Abmarschzeit meinte, es gäbe aber auch eine Ankommenzeit und die sei 22 Uhr, verlängert um 30 Minuten. Dann war ich außer Rufweite.

Ab jetzt konnte man gut laufen, alles eben, keine Großkiesel mehr, nur noch fester Sand. Wo aber war Deux Bras, wie weit war es noch? Die Zeit lief mir davon und ich lief wieder schneller als es vernünftig war.

Die Bändel wiesen jetzt Richtung Fluss und schon von Weitem sah ich, dass da Großkiesel neben Großkiesel im Wasser lagen. Ich reinigte die Brille und sprang dann von Stein zu Stein über den Fluss und drüben weiter auf dem Sandboden. Noch mindestens drei Mal musste ich auf diese Weise den Fluss überqueren. Einmal verlief ich mich, fand aber nach wenigen Minuten wieder den Weg.

Endlich sah ich in der Ferne Licht. Die Kontrollstelle?! Das könnte noch reichen!

Sa., 22:24 Uhr, 255 m, km 116,7 - Deux Bras

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Geschafft! Sechs Minuten vor dem Zeitlimit! Ich war glücklich, der Lauf war gerettet, jetzt war ich wieder im Limit, denn hier musste man erst um 2 Uhr in der Nacht die Station verlassen, ich hatte also wieder etwas Zeit. Allerdings würde ich auch hier nicht lange schlafen können.

Zuerst holte ich mein Gepäckstück, das ich hier hatte deponieren lassen. In der Zwischenzeit kam Bernhard herein. Er hatte sich offensichtlich besonnen und mir doch noch geglaubt. Ganz triumphierend meinte er, dass er um 22:31 Uhr angekommen sei und auch noch gewertet worden wäre. Er hätte schon immer gewusst, dass man das Zeitlimit auch überschreiten könne. Ok, auch eine Sichtweise. Ich ließ mich auf keine Diskussionen ein und Bernhard suchte das Zelt auf, zum Schlafen, während ich mich erst ausgiebig verköstigen wollte, bevor ich mich schlafen legte.

Wieder aß ich Hähnchenteile mit Reis, danach noch Ravioli und trank immer wieder einen Becher Cola. Dann tauschte ich mein Hemd mit einem trockenen aus dem Gepäckstück, frischte meine Vorräte ebenfalls auf, packte meinen unnötigen Ballast aus meinem Rucksack in das Gepäckstück. Erst jetzt, kurz vor Mitternacht, legte ich mich zum Schlafen in ein Zelt. Im Gegensatz zu Cilaos, wo man im Dunkeln im Zelt tappte, war das hier beleuchtet. „Aussteigen oder Schlafen und weiterlaufen?“ war die Frage auf englisch. „Weiterlaufen!“ Das Mädchen wies mir ein Feldbett zu, fragte, wann ich geweckt werden wollte und trotz vieler Liter Cola, die ich heute schon getrunken hatte, schlief ich tatsächlich nach etwa 10 Minuten ein.

 

Sonntag: Der Rest – kein Problem

Punkt 1.30 Uhr wurde ich, wie gewünscht, geweckt. Bernhard, der auf einem Bett mir gegenüber geschlafen hatte, war schon über eine Stunde fort und auch sein Nachfolger im Bett war gerade aufgestanden. Ich zog meine Schuhe an, nahm mein Gepäck und ging ins Versorgungszelt. Dort zog ich die Socken aus und verpflasterte mit dem Tape die Stellen an den Füßen, die gefährlich aufgerieben waren und wo demnächst Blasen entstehen würden.

Nachdem ich abmarschbereit war gab ich mein Gepäckstück ab und verließ drei Minuten vor dem letztmöglichen Zeitpunkt (1:57 Uhr) die Station. Ab jetzt würde ich mich beeilen und keine Zeit mehr mit Pausen vertrödeln. Schon wieder beschlug meine Brille. Ich holte wieder Papier heraus (Vorrat aus Gepäck ergänzt), putzte meine Brille und wollte alles wieder gut verstauen, als schon wieder der Stress losging, eine Flussüberquerung. Ich machte ein Bild und wollte den Fotoapparat schließen. Verflucht, das Objektiv fuhr nicht ein. Batterie leer? Also setzte ich den Rucksack ab und holte einen Ersatzakku heraus. Auch mit dem ging es nicht. Was tun? Ich musste weiter. Also schob ich die Kamera mit ausgefahrenem Objektiv in die Tasche. Zum Verstauen und Rucksack richtig befestigen kam ich nicht mehr, denn jetzt war ich dran, das Wasser zu überqueren.

Diesmal lagen da nicht sauber Kiesel an Kiesel nebeneinander, sondern es war schon ein gut Stück schwieriger. Eine Frau stand im Wasser und hielt einen der Großkiesel, der erbärmlich wackelte. Hatte man den überwunden, dann kam man ein paar Schritte auf sicheren Kieseln weiter und die letzten Meter stand wieder ein Helfer, der einen unterstützte. Geschafft! Ich wollte nochmals meine Brille reinigen, nach meiner Kamera schauen und dann meinen Rucksack ordentlich aufsetzten. Das ging aber nicht, da es unmittelbar nach der Überquerung brutal hoch ging und nirgends Platz zum Stehen war. Hinter mir kamen schon die nächsten beiden Läufer über den Fluss und ich musste also weiter. Auf Händen und Füßen begann ich den Aufstieg. Erst nach etwa 10 Minuten anstrengender Kletterei auf dem steilen Pfad, hatte ich alles arrangiert, der Rucksack war gut befestigt, die Brille gereinigt und die Kamera steckte mit herausgefahrenem Objektiv in meiner Hosentasche.

Wieder war ich gut in Form und obwohl es unglaublich steil hoch ging, man oft mit den Händen mithelfen musste, überholte ich  immer wieder. Oh, das war ja Jacqueline! War die doch tatsächlich noch nach Deux Bras gekommen und durfte weiter laufen.

An einer Stelle war der Abhang zu steil, einen Pfad konnte man hier wohl mit vertretbarem Aufwand nicht anlegen. Man hatte also die Stelle durch eine Eisenleiter überbrückt. Es war Nacht, der Steilhang, den wir da hochkeuchten, war bewaldet und in der Finsternis konnte ich sowieso nicht viel sehen. Normalerwiese wäre mir eine solche Leiter am Fels äußerst unangenehm gewesen. Hier aber, wo ich nichts sah, als die Sprossen über mir, machte ich mir keine Sorgen, stieg die Leiter hoch und lief oben weiter und überholte mal wieder jemanden. Donnerwetter, das war ja Stephanie.

Mit ihr konnte ich mich auf Englisch unterhalten. Es stellte sich heraus, dass sie Amerikanerin war, die aber schon lange Jahre auf Madagaskar lebte. Sie war vor Aurére im Wald zurückgeblieben, weil der Mann, der da telefonierend stand, Hilfe benötigte. Welches Problem er hatte, vergaß ich zu fragen, ebenfalls, wie sie ihm geholfen hatte. Weil sie Hilfe geleistet hatte, bekam sie aber eine Zeitgutschrift von zwei Stunden. Die hatte auch Jacqueline bekommen und so war es erklärlich, dass beide noch um 23:27 in Deux Bras einlaufen durften.

Vielleicht zehn Minuten lang kletterten wir gemeinsam den Pfad hoch und unterhielten uns, als ich mich verabschiedete und zügig weiter ging. Immer noch war ich gut drauf und arbeitet mich langsam aber sicher den Berg hoch. Ab und zu sah ich jetzt weit über mir Lichter. Das waren keine Läufer, sondern ein Ort. Das Ende der Schinderei war abzusehen.

Um 4:40 Uhr kam ich am Ortsanfang von Dos d’Ane an einer Kontrollstation an. Meine Nummer wurde notiert und ich lief weiter, jetzt auf guten Asphaltstraßen durch den Ort, hoch nach „Stade Dos d’Ane“. Es dauerte noch 15 Minuten, bis wir die steile Straße oben waren und in das Stadion einliefen.

So., 4:58 Uhr, 1.064 m, km 123,7 – Stade Dos d’Ane

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Unglaublich! ich hatte 2,5 Stunden Vorsprung vor dem Zeitlimit, was für ein Gefühl nach der Hetzerei gestern! Ausgiebig machte ich hier Rast und „verplemberte“ 35 Minuten. Übrigens, hier traf ich auch meine beiden Franzosen. Sie waren nach 1,5 Stunden Aufenthalt in Deux Bras weiter gegangen und hatten hier ein wenig geschlafen. Sein Bändel für die Brille wollte er nicht, die könne ich ihm noch im Ziel geben. Auch gut.

Laut Unterlagen ging es jetzt weitere 500 m hoch auf 1.513m bis zum Piton Bâtard und das Höhendiagramm zeigte, dass der Aufstieg noch steiler sein würde, als hoch nach Dos d’Ane. Ich war gerüstet und marschierte los. Zuerst ging es moderat ein paar hundert Meter aus dem Ort hinaus und schon stand ich vor dem Pfad, den man hoch musste. Es war inzwischen beinahe hell geworden und ich konnte den Weg einsehen. Tatsächlich, beeindruckend steil!

Nun war ich aber die letzten Meter seit Verlassen des Stadions richtig müde geworden. Immer wieder schwankte ich und schlief beinahe im Gehen ein. Klar, vor 53 Stunden hatte das Rennen begonnen, auf den Beinen aber war ich schon seit 71 Stunden und hatte in dieser Zeit etwa fünf Stunden geschlafen. In dem Zustand konnte ich nicht da hoch gehen. Ich setzte mich auf den großen Stein am Einstieg, machte die Augen zu und schlief tatsächlich kurz ein. Immer wieder wenn ich umzukippen drohte, wachte ich kurz auf, nickte aber sofort wieder ein. Nach etwa 15 Minuten stand ich auf und marschierte los. Der Berg, den wir da erklommen war bewaldet, der Aufstieg sehr steil, aber zu Beginn mit guten Stufen versehen. Das Wetter sah nicht besonders gut aus, kühl und windig. Je höher man kam, desto stärker wurde der Wind und es wurde nässer. Wir kamen offensichtlich in die Wolken.

Nach etwa 1,5 Stunden Aufstieg wurde es immer lichter um mich herum und bald hatte ich einen Berggrat erreicht, insgesamt vielleicht zwei Meter breit, rechts und links steil abfallend, was aber nicht so sichtbar wurde, weil alles dicht mit niedrigen Büschen bewachsen war. Der Pfad selbst, auf dem man lief, war vielleicht vierzig oder fünfzig Zentimeter breit. Die niedrigen Büsche konnten den Wind nicht zurückhalten und mir wurde immer kälter, ich musste meine Vliesjacke anziehen. Jetzt sollte doch langsam der Gipfel erreicht sein. Immer noch stieg aber der Grat an. War man dann oben, sah man, dass es jetzt wieder abwärts ging, der nächste Anstieg aber war auch schon zu sehen. Das war ein ewiges Hoch und Runter. Da hatte das Höhendiagramm mal wieder „betrogen“. Es gab überhaupt keinen Gipfel, sondern der Grat, auf dem ich lief, zog sich in ständigem Auf und Ab über eine Stunde hin.

Der Wind trieb die Wolken vor sich her, so dass ich das als leichten Regen empfand. Trotzdem wurde ich wieder müde und musste mich sehr konzentrieren, um nicht im Gehen die Augen zu schließen. Ich holte meine Windstopperjacke heraus und zog sie an. Da, direkt neben dem Pfad war ein etwa zwei Meter langes Felsstück am Boden nicht von Gras und Moos bewachsen. Ich zog den Rucksack aus, legte mich auf den Boden, den Rucksack unter dem Kopf und schlief sofort ein. Nach etwa 20 Minuten wachte ich auf, war erfrischt und erfreut, dass mir nicht kalt war.

Ich lief weiter dem Berggrat entlang und hatte irgendwann den Eindruck, dass es jetzt mehr ab als auf ging. Endlich, ich hatte es schon nicht mehr geglaubt, wir stiegen ab nach „Kiosque d'Affouches“, laut Höhendiagramm knapp fünfhundert Meter tiefer als der nicht vorhandene Gipfel. Glücklicherweise war der Abstieg moderat, offensichtlich hatten wir schon einen Teil der Höhe oben auf dem Grat verloren.

So., 9:02 Uhr, 1.050 m, km 130,3 - Kiosque d'Affouches

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Als ich in die Station einlief, traf ich auf Bernhard. Die nächsten zehn Minuten verbrachte ich mit Essen (Nudelsuppe mit Brot, Rosinen), Trinken (Cola) und Reden, dann gingen wir weiter. Wir liefen auf einer breiten Schotterstraße, die ganz sanft abwärts führte. Noch eine Weile erzählte ich in dürren Worten, was mir alles unterwegs widerfahren war und erntete dabei das Verständnis von Bernhard, dass ich ihn beim Abstieg vor Deux Bras so schroff angefahren hatte. Er meinte noch, dass diese Straße bis Colorado ginge und dann verabschiedete ich mich und joggte die Straße entlang, während Bernhard weiter wanderte.

Von wegen bis Colorado, nach bereits etwa drei Kilometern führte unser Weg rechts ins Gebüsch auf einen schmalen Pfad. Wäre auch zu schön gewesen, wenn es so einfach weiter gegangen wäre. Dieser Pfad durch den Wald aber ist eigentlich unbeschreiblich. Er war vielleicht 80 cm bis 1,5 m breit, Untergrund Erde, durch den Regen aufgeweicht und in eine Rutschbahn verwandelt. Dazu ging es ständig abwärts, immer wieder sehr steil und mit Wurzeln durchzogen. Wenn ein Pfad die Bezeichnung „Ho-Chi-Minh-Pfad“ verdiente, dann der hier, ganz sicher aber nicht das „Autobahnstück“, das man in Biel so nennt. Meist kam ich nur voran, wenn ich ohne Rücksicht nach links und rechts in die Büsche griff und mich an Zweigen festhielt, sonst wäre ich hoffnungslos abwärts gerutscht und gestürzt. Immer wieder aber wurde der Weg breiter und es waren keine Büsche links und rechts greifbar. Dann hielt ich mich an den Baumstämmen fest und hangelte mich so hinunter. Immer wieder auch ragten ganz dünne Bäumchen mit einem fingerdicken Stamm hoch aus den Büschen heraus. Die ergriff ich, der dünne Stamm bog sich und ich konnte mich seilte ein paar Meter "abseilen", soweit eben das Bäumchen reichte.

Bereits mehr als eine Stunde war ich so unter widrigsten Bedingungen unterwegs und trotz aller Vorsicht bereits zwei Mal ausgerutscht und hingefallen. Irgendwann war ich so entnervt, dass ich meinte, nicht mehr weiter zu können. Ich brauchte unbedingt einen Stock! Ich holte mein winziges Taschenmesser heraus (Klinge 3 cm lang) und machte mich daran, ein passendes Bäumchen abzuschneiden. Ziemlich schnell war mir klar, dass ich mit dieser kleinen Klinge kaum etwas ausrichten würde. Ich begann also mit Biegen und Schneiden und hatte nach vielleicht 10 Minuten das Bäumchen überwunden. Nun musste es noch auf passende Länge gekürzt werden, was nochmals zehn Minuten schneiden und biegen dauerte. Einmal nur hatte ich mir dabei in den Finger geschnitten, ein kleiner Schnitt, viel Blut, das sich sofort auf meiner nassen Hand ausbreitete und alle Vorbeilaufenden nach meinem Befinden fragen ließ.

Mit meinem neuen Stock erhoffte ich mir jetzt ein sicheres Vorankommen. Falsch! Durch das Biegen und Schneiden waren die Enden nicht spitz, sondern faserig. Damit bekam ich keinerlei Halt, der Stock rutschte beinahe mehr als ich. Bereits nach zehn Metern abwärts war das klar und ich warf den nutzlosen Prügel ins Gebüsch. Zwanzig Minuten und eine blutige Hand für nichts! Ich lief also nach der alten Taktik weiter und nach weiteren zehn Minuten wurde alles besser. Der Untergrund wurde zunehmend trockener und damit griffiger und es ging nicht mehr so steil abwärts. Noch einmal querte man einen schönen Weg, lief nochmals auf einem schlechten Pfad und endlich weitete sich der Blick, eine Wiese lag vor mir, weiter unten ein Weg, noch weiter unten die letzte Kontrollstation (Colorado) und ganz weit unten St. Denis und das Meer.

Kiosque d'Affouches
Richtung Süd-Ost
in den Cirque de Mafate nach Westen (Le Port)

So., 11:17 Uhr, 680 m, km 138,3 – Colorado

01. Anreise 02. Spaziergang 03. Ausflug 04. Startunterlagen 05. zum Start
06. Start 07. km 16 08. km 24 FocFoc 09. km 31 Volcan 10. Plaine des Cafres
11. km 50 Mare à Boue 12. km 60 Kerveguen 13. km 67 Cilaos 14. km 74 15. km 78 Col du Taibit
16. km 81 Marla 17. km 84 Trois Roches 18. km 89 Roche Plate 19. km 94 Ecole des Orangers 20. km 99 Ecole Grand Place les Bas
21. km 108 Aurére 22. km 117 Deux Bras 23. km 124 Stade Dos d'Ane 24. km 130 Kiosque d'Affouches 25. km 138 Colorado
26. im Ziel 27. danach  

Mein Zeitpolster war sozusagen unendlich (3:15h) und nur noch fünf Kilometer lagen vor mir, allerdings auch 640 Höhenmeter abwärts. Ich ließ mir dadurch aber mein Hochgefühl nicht verderben, trank jede Menge Cola, setzte mich kurz hin und war nach wenigen Minuten wieder unterwegs.

Erst ging es moderat weiter, bis ich nach etwa einem Kilometer in dem bewaldeten Hang war, der sich bis St. Denis hinunterzog und von dem Bernhard vorab schon gewarnt hatte. Immer wieder würde es hier ganz hinterhältig auch wieder aufwärts gehen, so dass man beinahe verzweifelte. Zuerst aber verzweifelte ich, weil der Abstieg so schwer war. Riesige Stufen, teilweise fast einen Meter hoch. Wenn man nicht auf dem Hosenboden abwärts rutschen wollte, oder gar springen, musste man die kleineren Steine links und rechts vom Weg als Zwischenstufen benutzen. Schon wieder sehr anstrengend, denn dieses Springen  erforderte alle Konzentration und Kraft. Bald war es mit Beidem vorbei und ich nahm immer häufiger die Hände zu Hilfe um diesen Felsenweg hinunter zu steigen.

Als dann die von Bernhard erwähnten Anstiege kamen, war ich darauf vorbereitet und störte mich nicht groß daran. Etwas mehr als eine Stunde dauerte es, bis ich diesen elenden, hundsmiserablen, niederträchtigen, gemeinen Weg verlassen konnte und endlich aus dem Wald herauskam. Im Hochgefühl lief ich die letzten Serpentinen abwärts, überholte noch ein paar Läufer und wurde ebenfalls noch überholt. Die letzten dreihundert Meter abwärts marschierte ich hinter einem Pärchen her, dem jetzt von Freunden und Bekannten zugejubelt wurde.

So., 13:10 Uhr, 53 m, km 143,3 – im Ziel

Anreise Spaziergang Ausflug Startunterlagen zum Start
Start km 16 km 24 FocFoc km 31 Volcan Plaine des Cafres
km 50 Mare à Boue km 60 Kerveguen km 67 Cilaos km 74 km 78 Col du Taibit
km 81 Marla km 84 Trois Roches km 89 Roche Plate km 94 Ecole des Orangers km 99 Ecole Grand Place les Bas
km 108 Aurére km 117 Deux Bras km 124 Stade Dos d'Ane km 130 Kiosque d'Affouches km 138 Colorado
im Ziel danach    

Dann ging es nach links, hinein in das Stadion La Redoute. Hier standen Sigrid, Adrian, Kunibert und Pascal an der Aschenbahn. Sie freuten sich, dass ich da war, klatschten Beifall, fotografierten und rannten dann ins Ziel, um mich dort zu empfangen. Ich selbst war überglücklich, dass ich den Lauf geschafft hatte und genoss die Meter bis ins Ziel. Nach der Beglückwünschung durch die Freunde, bekam ich die Medaille und das Finisher-Shirt mit der Aufschrift: "J'AI SURVÉCU", was mit "Ich bin durchgekommen" oder auch mit "Ich habe überlebt" übersetzt werden kann.

Wir warteten nicht mal eine Stunde und schon kam auch Bernhard ins Stadion. Wir waren komplett. Bernhard aber war so erschöpft, dass er sofort ins Hotel zum Schlafen ging. Pascal, Adrian, Sigrid und ich blieben noch länger.

Natürlich tauschten wir Erlebnisse aus. Adrian musste in Colorado zwei Stunden lang bei den Sanitätern liegen. Eine Sehne hatte sich so entzündet, dass er kaum mehr laufen konnte. Er verlor zwar mehrere Stunden und fiel vom 25. auf den 110. Platz zurück, war aber trotzdem in einer Traumzeit von 31:44 Stunden ins Ziel gekommen.

Adrian 31:44 h

Giselher 24:45 h

Holm stieg in Marla aus

Pascal 34:41 h

Kunibert 54:47 h

Eberhard 60:11 h

Sigrid verpasste das
Zeitlimit in Ecole Grand
Place les Bas
Zieleinlauf
Eberhard
         
         
Zieleinlauf
Bernhard
61:03h
aa Hier sind die
Bilder von
allen Teilnehmern
Der Chef stellt
sein Orga-Team
vor
Adrian und
Eberhard bei
McDonalds
 

Die Tage danach

Bis zum Abend noch war ich wach, zu aufgeregt, um an Schlafen zu denken. Holm erzählte noch seine Erlebnisse. Er war bis Marla gekommen und gehofft, dass er von dort aus mit dem Auto weiter käme. Nun liegt aber Marla im Cirque de Mafate und Holm wusste nicht, dass dieser Cirque immer noch vollkommen abgeschlossen ist, dass also auch keine Straße hinein führte. Er musste noch viele Stunden mit einigen Betreuern über den Piton des Neiges in den Circque des Salazie wandern und erst von dort konnte er im Auto mitfahren bis nach St. Denis.

Gegen 22 Uhr ging ich dann ins Bett. Holm behauptete, dass ich bereits geschnarcht hätte, als ich noch einen Fuß auf dem Boden hatte. Vermutlich aber hat er da ein wenig übertrieben.

Montags bummelten wir in St. Denis, ich kaufte mir noch detaillierte Wanderkarten, um unseren Weg rekapitulieren zu können und flogen dann am Abend (21.20 Uhr) zurück nach Paris.

Fazit

Noch nie war ich so lange bei einem Lauf auf den Beinen. Ein einmaliger Lauf, der geprägt ist durch eine beeindruckende, bizarre und schöne Landschaft und eine Streckenführung, die das Maximale abfordert, dazu aber auch genügend Zeit gibt, so dass auch langsame Läufer, wie ich, eine Chance haben, durch zu kommen. Während des Laufes und auch unmittelbar danach waren wir uns alle einig, Pascal, Adrian, Kunibert und ich, dass wir hier nicht mehr laufen würden. Es war uns unbegreiflich, wie Bernhard das drei Mal machen konnte. Bereits Stunden danach und vor allem am nächsten Tag hörte sich das anders an, niemand wollte eine zweite Teilnahme ausschließen. Heute, Tage und Wochen danach, bin ich mir sicher, dass ich nochmal auf Reunion laufen werde. Einen solchen Lauf findet man nur auf dieser Insel.

Anreise Spaziergang Ausflug Startunterlagen zum Start
Start km 16 km 24 FocFoc km 31 Volcan Plaine des Cafres
km 50 Mare à Boue km 60 Kerveguen km 67 Cilaos km 74 km 78 Col du Taibit
km 81 Marla km 84 Trois Roches km 89 Roche Plate km 94 Ecole des Orangers km 99 Ecole Grand Place les Bas
km 108 Aurére km 117 Deux Bras km 124 Stade Dos d'Ane km 130 Kiosque d'Affouches km 138 Colorado
im Ziel danach    

Letzte Änderung:
13. August 2009

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